Was kann man über diesen Krimi sagen, ohne zuviel preiszugeben?
Vielleicht, dass es eigentlich gar kein Krimi ist, sondern eine Geschichte über Irland. Irland 2010. Ein Irland in der Rezession. Lehman Brothers ist pleite, der Traum vom selbstverständlichen Reichwerden ist geplatzt und mit ihm alle Blasen: Immobilien, Hypotheken, Börsenkurse.
Pat und Jenny sind da Ende zwanzig, sie haben den irischen Traum gelebt, sie waren das Bilderbuchpaar ihrer Clique, gingen aufs College, hatten gute Jobs, heirateten, bekamen zwei süße Kinder, kauften ein Haus in einer der Neubausiedlungen. Dann kam die Krise, Pats Job wurde wegrationalisiert, die Siedlung stand halbgebaut und noch zur Hälfte leer, das Geld von der Abfindung ist aufgebraucht, kein neuer Job in Sicht, aber die Hypothekenraten bleiben und die Kinder brauchen Kleider und die Kita kostet.
Und dann entdeckt man eines Morgens: Pat erstochen, Jenny schwerst verletzt, ebenfalls voller Stichwunden, die Kinder tot, und alles voller Blut. In dem folgenden Kammerspiel geht es eigentlich weniger darum, wer am Ende der Mörder war. Tana French verzichtet auf rote Heringe und falschgelegte Spuren: Die Möglichkeiten sind daher sehr begrenzt - und jede von ihnen ist entsetzlich!
Wie stets zeichnet sie ihre Figuren mit viel Fingerspitzengefühl und sehr plausibler Psychologie. Wie stets gibt es keine Action, die akribische Polizeiarbeit mit Spurensuche und vielen Interviews wird (soweit mans als Laie beurteilen kann) realistisch geschildert und doch ist das behutsame Bohren in den Seelen und dem Erinnerungsvermögen der Zeugen und Verdächtigen zehnmal spannender als irgendeine blöde Verfolgungsjagd in einem mittelguten Thriller.
Gegenüber den ersten Bänden hat sie hier definitiv zugelegt und zeigt sich schon in voller Meisterschaft. Das Tüpfelchen auf dem i ist für mich der Icherzähler: Der ermittelnde Kriminaler, Michael "Scorcher" Kennedy - ein ausgesprochenes Arschloch. Kein unzuverlässiger Erzähler, es kommt von Anfang an klar raus, dass wir ihn nicht mögen: Ein wenig zwanghaft, mit alphabetisch geordnetem Bücherregal, beängstigend schlichtem Weltbild, dem Drang nach Perfektion und daraus folgend überdurchschnittlichem Ermittlungserfolg, den er auf dem Affenfelsen der Mordeinheit gegenüber den anderen eifersüchtigen Pavianen mit arroganter Distanz verteidigt.
Schade finde ich, dass Tana French diese grandiose Figur nicht einfach so stehen lassen kann, sondern sie uns in einem Nebenstrang bis zu Ende auseinandernimmt und erklärt: Schwester mit schwerer psychischer Macke, jugendliches Trauma, Tod der Mutter, blablabla, auf den letzten Seiten nimmt sie ihm jedes Geheimnis und macht sein Verhalten völlig plausibel, und wenn sie das gelassen hätte, wäre sie für meine Begriffe literarisch noch eine Liga aufgestiegen.