Die vorliegende Anthologie umfasst 10 Kurzgeschichten, die in verschiedenen Jahrhunderten angesiedelt sind und verschiedene Aspekte der Geschichte der Insel und vor allem ihres Klosters beleuchten. Wie lebten die Mönche und Äbte? Wie sah das Verhältnis zwischen ihnen aus? Welche politischen Ereignisse prägten ihren Alltag? Wie lebten einfache Menschen in dieser Zeit und welche Rolle hatte das Kloster auf der Reichenau in ihrem Leben? Auf all diese Fragen geben die Kurzgeschichten in diesem Band spannende und unterhaltsame Antworten.
Das Erste, was dem Leser angenehm auffällt, ist die Gestaltung des Covers. Das Hardcover mit Goldprägung sowie eine alte Karte der Insel im Inneren werten dieses Buch auf.
Besonders hervorheben möchte ich das Inhaltsverzeichnis. Es ist in Form einer Chronologie zusammengestellt und die Kurzgeschichten sind an den entsprechenden Stellen eingebaut. Auch das anschließende Vorwort der Herausgeberin finde ich sehr gut gelungen. Es erläutert die Chronologie und gibt einen ersten Einblick in die einzelnen Geschichten. Das finde ich persönlich eine sehr schöne Idee.
Zu den einzelnen Geschichten:
"Das Gottesurteil" von Heidrun Hurst
Das Band eröffnet die Geschichte der Richardis, die kurz davor ist, das ewige Gelübde abzulegen. Doch ihr Vater entscheidet ihr Schicksal anders und verheiratet sie mit einem Mann, den sie nicht einmal kennt und der nichts zu ihr empfindet. Die ersten zwei Drittel der Geschichte fand ich sehr spannend, sehr gut geschrieben. Ich fühlte mich von der Handlung und den Gefühlen der jungen Frau mitgerissen. Doch im letzten Drittel kam ein Bruch. Auf mehreren Seiten wird die Geschichte nicht mehr erzählt, so, dass man sie miterleben kann, sondern trocken zusammengefasst. Als hätte die Autorin gemerkt, dass sie nur noch wenig Platz zur Verfügung hat, aber noch ein halbes Leben der Heldin erzählen möchte. Es sind zum Teil Seiten, auf denen die politischen Entwicklungen beschrieben werden, ohne dass der Name von Richardis auftaucht. Selbst die dramatischen letzten Seiten retten die Geschichte nicht mehr. Das fand ich extrem schade.
"Confiteor" von Tanja Kinkel
Die erste Kurzgeschichte der Herausgeberin des Bandes erzählt von einem der mächtigsten Männer seiner Zeit, einem Abt von 4 Abteien und weltlichen Herrscher. Er macht sich auf den Weg zur Reichenau, wo vor langer Zeit sein Aufstieg begann. Was sein Anliegen dabei ist, weiß niemand. Neben seiner Geschichte, die der Leser nach und nach erfährt, bekommt man einen Einblick in die politische Situation seiner Zeit, ohne dass es trocken rüberkommt. Wenn ich diese Kurzgeschichte mit einem Wort zusammenfassen sollte, dann wohl mit "menschlich".
"Morcheln im Winter und der sehr große Fisch" von Sabine Ebert
Ich muss zugeben: Auf diese Geschichte war ich besonders gespannt, denn Sabine Ebert ist für mich persönlich eine der größten Autorinnen in ihrem Genre. Die Geschichte, die sie für dieses Band schrieb, überraschte mich mit ihrer Leichtigkeit. Sehr lebendig und humorvoll erzählt die Bestsellerautorin von einem Wettstreit der Klöster Reichenau und St. Gallen. Es ist eine der wenigen Geschichten in dieser Anthologie, die sich nicht zu sehr an die politischen Auseinandersetzungen klammert, sondern sehr lebendig zeigt, wie das Leben der Mönche zu jener Zeit ausgesehen hat. Ich habe diese Kurzgeschichte richtig genossen.
"Ein freier Geist" von Caren Benedikt
Das ist eine Kurzgeschichte etwas anderer Art. Ihren größten Teil machen die Briefe eines Mönchs an seinen verstorbenen Mitbruder, den Chronisten Hermann von Reichenau, aus. Es ist ein emotionales Porträt, das den Leser berühren wird. Ich fragte mich beim Lesen nur: Wie realistisch ist es, dass man im Jahr 1054 so lange Briefe schreibt, in den Zeiten, in denen das Pergament wohl alles andere als billig war? Wenn das, was in dieser Geschichte geschrieben ist, von Berthold "nur" gedacht gewesen wäre, wäre das für mich völlig authentisch. Aber Tinte und eine Menge Pergament in der Zelle eines Mönchs? Ich weiß es nicht.
"Falsch Zeugnis" von Juliane Stadler
Leider eine nur sehr kurze Geschichte, denn die Idee fand ich wunderbar! Sie zeigt, welche "alltäglichen" Probleme einen Abt auf der Reichenau beschäftigt haben könnten. Einerseits gibt es einen Vogt, der unverschämte Forderungen nach zusätzlichen Abgaben stellt oder ein Schriftstück verlangt, das den Abt davon befreien würde. Andererseits die Frage, ob einer der jungen Mönche in seinem Scriptorium seine Herkunft urkundlich nachweisen kann, um im Kloster bleiben zu dürfen. Die Wendung und die Lösung der beiden Fragen fand ich sehr gelungen. Eine großartige Geschichte!
"Adelindis und die toten Äbte von Reichenau" von Carmen Mayer
Diese Geschichte würde ich sehr gerne ausgeschrieben in einem historischen Roman lesen. Sehr spannend erzählt die Autorin von Intrigen im Kloster, vom rätselhaften Sterben der Äbte, Machtkämpfen, Fälschungen und scharfen Sinnen einer Nonne, über deren Leben ich sehr gerne mehr erfahren würde. Sehr lesenswert.
"Der gestohlene Schrein" von Iny Lorentz
Das Autorenehepaar schafft es, eine spannende Geschichte mit interessanten Figuren zu schaffen und - was mir für viele ihrer Romane typisch vorkommt - die Konflikte auf eine ein bisschen märchenhafte Art zu lösen. Mir hat der Text gefallen. Er tut, was er tun muss: unterhalten.
"Der Konstanzer Fischerkrieg" von Carmen Mayer
Diese Kurzgeschichte erzählt von den historischen Ereignissen am Bodensee, von denen ich bisher nichts gehört hatte (und erwähnt nebenbei eine Sehenswürdigkeit auf der Reichenau, die ich bei meinem einzigen Besuch der Insel übersehen hatte - die Ruine der Burg Schopflen). An sich ist die Geschichte interessant, sie spricht ein sehr spannendes Thema an, allerdings fand ich, dass eine Kurzgeschichte dafür zu knapp war. Die Zusammenfassung der historischen Ereignisse auf der letzten Seite der Kurzgeschichte hat mich dann etwas gestört. Was aus Elsbeth und ihrer Tochter wurde, wie es ihrem Mann erging, und alles, was den Fischerkrieg betrifft, hat in meinen Augen Platz in einem eigenen Roman verdient. Nur, bitte, ohne Passagen mit der Zusammenfassung der Geschichte!
"Die Weinprobe" von Heidi Rehn
Von Heidi Rehn habe ich leider bis jetzt noch nie etwas gelesen, aber einiges über sie gehört. Dass sie auch eine Geschichte ins Mittelalter platziert, fand ich spannend. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass die Autorin sich wahrscheinlich in größeren Texten wohler fühlt. Sie will längere Zeitabschnitte erfassen, nur in dieser Geschichte wirkte es auf mich so, als würden die Hauptfiguren nichts anderes tun, als zu warten und zu beobachten, wie sich die Lage entwickelt.
"Exorzismus" von Tanja Kinkel
Die zweite Kurzgeschichte der Herausgeberin dieses Bandes hat mich thematisch leider nicht mitgenommen. Es ist ein gut geschriebener Text, aber irgendwie hat er mich nicht berührt.
Zusammenfassend möchte ich dieses Buch jedem empfehlen, der sich für die Insel Reichenau und historische Romane interessiert. Denn die Kurzgeschichten, die in diesem Band gesammelt sind, erfüllen meiner Meinung nach gleich zwei wichtige Funktionen. Zum einen tragen sie etwas zum Thema bei, was das Hauptanliegen ist. Zum anderen stellen sie uns zugleich Autorinnen vor, von denen man bisher vielleicht nichts gelesen hat. Nach einer kleinen "Kostprobe" ihrer Schreibkunst wird man aber bestimmt neugierig auf mehr, so wie es auch in meinem Fall war.
Eine klare Kauf-/Leseempfehlung