Ich betrachtete Mals Gesicht, dessen Züge bereits ins Unvertraute glitten, das der Tod mit sich bringt.
„Wer hätte das gedacht?“, meinte Mickey. „Ein stabiler Typ wie Mal. Man kann eben nie wissen.“
Mickey langte nach oben und entfernte die Kabel aus der Lampenfassung, fing an, sie aufzuwickeln.
„Das ist unerfreulich“, sagte ich.
„Wieso das, Boss?“, fragte Mickey.
„Ich glaube nicht, dass er es war.“ (Auszug S.102-103)
Der Typ, der so eben den Tod eines Mitarbeiters in Folge einer Befragung unter Folter ein wenig achselzuckend hinnimmt, ist George Fowler. Fowler ist eine Unterweltgröße Ende der 1970er in England, ein Pornokönig. Pornographie war damals in Großbritannien verboten und damit auch ein äußerst lukratives Geschäft. Fowler hat sich ein kleines Imperium aufgebaut, dass sowohl Produktion als auch Vertrieb umfasst. Dabei bietet Fowler eine große Bandbreite vor allem im Hardcorebereich an – bis hin zu Snuff-Videos. Fowler und seine Gattin Jean mischen auch gerne selbst bei der Produktion mit.
Doch sein Imperium ist stets bedroht – sowohl von Konkurrenten als auch von der Polizei, bei der er sich allerdings einige Beamten als Augen und Ohren hält. Allerdings gibt es nun Ärger von innen: Seine Frau Jean macht auch das Controlling und in den Büchern fallen verschwundene Beträge auf. Nichts, was seinen Reichtum in Gefahr bringen würde, aber etwas, was man natürlich nicht tolerieren darf. Fowler beginnt mit dem Verhör einiger direkter Untergebener. Dabei fallen allerdings Kollateralschäden an (siehe oben). Fowler wird zunehmend paranoid, kann sich nur noch auf die Loyalität einiger weniger (zurecht?) verlassen und so beginnt das Imperium immer schneller zu erodieren.
In Mablethorpe öffnet man vormttags um zehn, während und außerhalb der Saison.
Meine gelegentlichen Ausflüge in die Stadt bleiben von dieser Tatsache unberührt, weil ich immer dabei habe, was ich benötige. Es ist oben so, dass die Fahrt in die Stadt und das Umherwandern mir die Illusion verschaffen, die Zeit verfieße, stehe nicht stillwie die immerwährende Leere, worin mein Verstand verharrt. (Auszug S.69)
Das Ganze erzählt uns George Fowler selbst, aufgeteilt auf zwei Zeitebenen. Die Kapitel sind abwechselnd mit „Die See“ und „Der Rauch“. „Die See“ wird im Präsens erzählt, Fowler ist offenbar untergetaucht, hält sich im kleinen Seebad Mablethorpe an der Ostküste Englands auf, hat dort einen Bungalow in den Dünen. Fowler grübelt viel, trinkt viel Scotch und pflegt seine Paranoia. In einer jungen Frau, die ihm in einer Kneipe und einer Spielothek begegnet, glaubt er, einen Lockvogel zu erkennen. In den Abschnitten „Der Rauch“ wird rückblickend erzählt, wie es dazu kam, dass Fowler in diesem trübseligen Seebad abtauchen musste.
Autor Ted Lewis ist eine feste Größe in der britischen Noir-Szene. Seinen Durchbruch erlangte er 1970 mit dem Roman „Get Carter“, bekannt unter anderem auch durch die Verfilmung mit Michael Caine in der Hauptrolle (es gibt auch eine Neuverfilmung mit Sylvester Stallone). Lewis verstarb 1982 im Alter von nur 42 Jahren. Heutzutage ist er im deutschsprachigen Raum nur noch eingefleischten Krimifans ein Begriff, auch ich konnte auch erst im Zusammenhang mit „Get Carter“ etwas mit ihm anfangen. Somit ist es durchaus erfreulich, dass Verleger Frank Nowatzki „GBH“ („grievous bodily harm“) eine Neuauflage spendiert, nachdem er den Roman bereits 1990 in seiner Reihe „Black Lizard Bücher“ herausgegeben hatte. Im Vorwort gibt es übrigens noch eine Würdigung durch den auch nicht unbekannten Derek Raymond.
„Schwere Körperverletzung“ ist ein klassischer Noir über Macht, Gewalt und Verrat mit einem Ich-Erzähler, der dem Leser einen tiefen Einblick in seine seelische Verfassung bietet. In der Gegenwart der einsame Wolf, der sich in den schmerzenden Erinnerungen suhlt, seine Paranoia pflegt und langsam in den Wahnsinn gleitet. In den Rückblicken der omnipotente Gangsterboss, der mit brutaler Rücksichtslosigkeit seine Macht zu erhalten versucht und nur schwer bemerkt, wie ihm alles entgleitet. Am Ende kommt es dann doch zum Showdown im sonst so abhängtem Mabelthorpe. Alles in allem eine durchaus anregende Reise in den britischen Noir der 1970er.