Das Wort Tremor steht für eine Bewegungsstörung, ein unwillkürliches Zittern in den Extremitäten; der Muskulatur. "Tremore unterscheiden sich nach betroffener Körperpartie, Frequenz, Stärke, Ursache und Vorkommen." (siehe Wikipedia) - Ein irgendwie passendes Bild, wenn ich an Teju Coles gleichnamigen Roman "Tremor" [aus dem Englischen von Anna Jäger] denke. In diesem Buch lernen wir Leser*innen zunächst Tunde kennen. Er wuchs in Lagos, Nigeria auf, ging mit siebzehn Jahren in die USA und hält heute Vorträge und lehrt Fotografie an einer amerikanischen Universität. Er nimmt uns mit über den Campus, führt uns in Institutionen und ins Museum, beschreibt seinen Blick auf die Welt, die Kunst und Kultur. Und er nimmt uns mit nach Lagos.
Vielleicht könnte man nun im Entferntesten von einer akademischen Aufstiegsgeschichte sprechen in der Bildung für Tunde einen sehr hohen Stellenwert bekam, wäre da nicht seine Herkunft und die Risse, die sich immer wieder auftun und bis heute sein und das Leben vieler Schwarzer prägen. Kolonialismus, Gewalt, Verlust, Rassismus und Vorurteile... sind Themen, die sich in so viele Dinge der bestehenden, weiß-geprägten Welt eingeschrieben haben, sich hier und da nur in "Frequenz, Stärke, Ursache und Vorkommen" unterscheiden und so immer wieder die unterschiedlichsten Lebensrealitäten bezeugen, ob man es will oder nicht. Ein Blick auf Kunst, Kultur, Geschichtliches und dessen Bedeutung genügt, um zu verstehen, dass dort viel mehr 'erzählt' wird, als nur die EINE Geschichte. Und dass dort noch viel mehr Fragen lauern, als jene, über die wir uns bislang Gedanken machten...
"Wie lebt man, ohne andere zu besitzen? Wem gehört diese Welt? Weiße Menschen haben uns beigebracht, dass die Welt mittels Religion und Kriegsführung beherrscht werden kann, dass sie zum Zweck des Vergnügens und der Forschung gesammelt werden kann, dass sie durch Reisen in Besitz genommen werden kann - dass Besitz dem zusteht, der ihn sich nimmt und verteidigt. Wie lebt man, ohne das Leben der anderen zu kannibalisieren, ohne sie zu Maskottchen, Faszinosa, bloßen Begrifflichkeiten in der Logik zu einer dominanten Kultur zu reduzieren?"
Was nun, bei diesen wenigen Zeilen, schon deutlich wird, ist dass es sich bei "Tremor" um keine leichte, eingängige Lektüre handelt. Cole schreibt einerseits über eine Lebensgeschichte, andererseits durchbricht er diese Erzählung immer wieder mit zahlreichen Gedanken und Themen, die es schwer machen eine eindeutige und chronologische Handlung zu finden. Für mich ist es so auch eher eine Art Ergänzung zu anderen Romanen wie "Weiße Flecken" von Lene Albrecht oder "Issa" von Mirrianne Mahn, die zwar auch an einigen Stellen nur Fragmente enthalten, aber durch ihre Handlung und Geschichte eine viel emotionalere Bindung zu den Leser*innen ermöglichen. "Tremor" ist mehr so eine kluge, intensive Auseinandersetzung mit zahlreichen Themen von Kolonialismus, Rassismus, Korruption, Bildung, deren Einfluss auf die Fotografie, die Kunst und das kulturelle Erbe, bis hin zu Gedanken und Beschreibungen über die Situation in Nigeria - außerhalb, wie innerhalb. Mensch(sein). Mal sind es mehr tiefgründige Gedanken, Gedankenverkettungen, mal mehr Beschreibungen des Gesehenen, Geschehenen oder der Versuch einer Erklärung für die jeweiligen Lebensverhältnisse. Und ich glaube, das mag ich an diesem Buch besonders... das Aufbrechen bekannter Perspektiven, wenn auch Schwarze Stimmen immer mehr Gehör finden und vieles fast schon logisch erscheint, so ist es immer wieder bereichernd noch einmal von einer anderen Lebensrealität, einen anderen Bezug oder mehr Wissen über xy zu erfahren oder wann hat man sich schon mal Gedanken über Hotels gemacht? oder ob ein Land überhaupt für die Herstellung von Produkten gemacht ist? Cole präsentiert dabei, wenn es um Fotografie oder Kunst geht oder um die Bennin-Statuen oder das Gemälde "Sklavenschiff (Sklavenhändler werden Tote und Sterbende über Bord - ein Taifun zieht auf) , keine vorgefertigte Lösung eines Bessergebildeten für den Umgang eben jener Überlieferungen, er zeigt Gedanken auf, hilft als Außenstehender Gegebenheiten besser einzuschätzen und zeigt zeitgleich unseren unempathischen Umgang mit all den mitschwingenden Themen der geschichtlichen Prägung.
"Jeder Mensch erschließt sich die Welt aus einem persönlichen Blickwinkel, was dieses Wissen nicht schmälert. Jeder Mensch begreift das Leben auf der Grundlage kleiner persönlicher Ereignisse. Die eigene, unmittelbare Erfahrung ist das, was zählt. Nur wenn wir uns auf das stützen, was wir wissen und was wir erlebt haben, können wir uns in größere Zusammenhänge begeben."
...und gerade dabei hilft dieses Buch und diese kluge, intellektuelle Auseinandersetzung ungemein. Da es dennoch ein etwas spezielleres Buch ist und zeitweise intensiv und anstrengend, nur eine vorsichtige Empfehlung.