Theodor Lessing

 4,2 Sterne bei 13 Bewertungen

Lebenslauf

Theodor Lessing, 1872 als Sohn eines jüdischen Arztes in Hannover geboren, war ab 1907 Privatdozent für Philosophie und Pädagogik an der Technischen Hochschule Hannover. Große Aufmerksamkeit erregte er u.a. durch sein politisch-psychologisches Portrait des Massenmörders Haarmann (1925) und seine Schrift »Der jüdische Selbsthaß« (1930). Mit seinen Artikeln, Essays und Glossen in verschiedensten Zeitschriften wurde er einer der bekanntesten politischen Schriftsteller der Weimarer Republik. Ein großer Teil seines Werkes ist, da verstreut erschienen, heute nahezu unbekannt. Lessing wurde 1933 in Marienbad von sudetendeutschen Nationalsozialisten ermordet.

Quelle: Verlag / vlb

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Neue Rezensionen zu Theodor Lessing

Cover des Buches Die verfluchte Kultur (ISBN: 9783882213256)

Rezension zu "Die verfluchte Kultur" von Theodor Lessing

Eines der Bücher, das man im Leben gelesen haben sollte
Ein LovelyBooks-Nutzervor 6 Monaten

Im Alltag verstehen wir unter Kultur meist nur noch so etwas wie Ästhetik und Kunst. Kulturelle Veranstaltungen sind dann so etwas wie der Besuch einer Philharmonie, eines Museums oder einer Oper. Oder der Begriff wird zu einem Allerweltsbegriff degradiert: Diskussionskultur, Esskultur, Fankultur usw. Dabei steht Kultur eigentlich ursprünglich als Gegensatz zu Natur. Die Natur ist das gegebene, vom Menschen nicht beeinflusste, also im Sinne der ursprünglichen nicht veränderten Natur. Kultur ist dementgegen alles das, was Menschen erschaffen und damit sind nicht nur Güter gemeint, sondern tatsächlich und vor allem die geistigen Leistungen wie Sprache, Religion, Moral, Wissenschaft, Musik, Ideologien. Und Menschen sind in der Regel überaus stolz auf ihre eigene Kultur, sie sie meist auch noch für eine überlegene Kultur halten. Einfach deswegen, weil sie ihre Kultur als normal wahrnehmen und andere als fremd. „Deutschland, das Land der Dichter und Denker“ ist so eine chauvinistische Selbstbeweihräucherung. Nun hat es in der Geschichte aber auch nicht an Kulturkritikern gemangelt. Also Menschen, die die spezifische Geistes- und Moralentwicklung ihres Landes, Europas oder des Westens kritisiert haben. Rousseau, Nietzsche, Freud, Marx, Adorno sind mit Sicherheit die Bekannteren. Dabei hat Theodor Lessing mit „Die verfluchte Kultur“ eine der herausragendsten Kulturkritiken aller Zeiten geschrieben.


„Geist ist eingedrungen in die Natur, wie das Messer dringt in eines Baums Mark. Nunmehr freilich kann die toddrohende Schneide nicht aus dem Stamme herausgezogen werden, denn der Baum würde dabei verbluten. Aber niemand darf behaupten, daß ein Schwert im Herzen der Weltesche das Merkmal sei für ihre Gesundheit.“Jean Jacques Rousseau


Der Mensch als Weltzerstörer

Der Untertitel von Theodor Lessings Brandschrift, heute würde man wohl Rant sagen, ist Leitidee: Gedanken über den Gegensatz von Leben und Geist. Hier ist Kultur nicht die großartige Leistung der Menschen, sondern der Widerspruch zum natürlichen Leben. Kultur als Zerstörung der Natur, als Widersacher des Lebens. Angesichts der Auswirkungen der Menschheit auf die Natur, und hier sei erst einmal die allgegenwärtige Klimaerwärmung genannt, ist Lessings Kampfschrift erschreckend aktuell. Und es wird noch erschütternder. Lessing hat seine Überlegungen bereits 1921 niedergeschrieben:

Längst hinweggewischt und geschwunden ist die gesamte Tierwelt Europas … Was ist in Deutschland binnen 100 Jahren vom Erdboden weggeknallt? Auerochs, Tarpan, Wisent, Bär, Lux, Wolf, Elch, Wildkatze, Biber, Otter, Marder, Nerz. … Von mehreren tausend Vogelarten blieben wenige hundert übrig. … Zu diesem Frevel am Tier, welch unerhörter Frevel an Aue und Wald! … alle diese geschändeten Erdstriche zeigen, wie die Natur am wälderverwüstenden Menschen sich rächt, der die blühende Lebenswelt vermarktet, verkrämert, verhandelt.“

Vor 100 Jahren geschrieben und seit 200 Jahren kaum etwas dazu gelernt. Immer noch ist die größte kulturelle Leistung des Menschen der Kapitalismus, der alles und jeden zur Ware, zum Objekt, zum Tauschwert und Konsumgut macht. Wir vernichten Leben und unsere Lebensgrundlage gleich mit. Alles für Profit, Wohlstand, unermesslichen und unsinnigen Reichtum, für Dekadenz. Die Häuser und Autos werden immer größer, Obst und Gemüse aus der gesamten Welt müssen jederzeit im Discounter zur Verfügung stehen. Alles muss so billig wie möglich sein, damit auch die dritte Urlaubsflugreise im Jahr finanziert werden kann. 2019 wurden in Deutschland 55 Millionen Schweine geschlachtet. Das sind 150.000 Schweine pro Tag. Bei Hühnern wurde die unvorstellbare Menge von 620 Millionen Tieren getötet. 16 Millionen Enten, 3,4 Millionen Rinder. Lebewesen als Konsumgut. Weil es so gut schmeckt. Welche Kulturleistung soll das sein?

„Milliarden erdgebundener dumpfer wort- und wehrloser Wesen sind dahingemordet. Denn wo immer der Mensch nackend der Natur gegenübersteht, da unterliegt er kläglich. Als der Erde anfälligstes Geschöpf muß er die Erde morden, um sie ertragen zu können. Der Scholle hilflosestes Wesen wurde grade vermöge dieser Hilflosigkeit zum Erfinder einer ungeheuren Maschinerie.“

Das Ego und der Weltenbrand

Wir verwechseln Macht mit Wahrheit und Vernunft mit Sinn. Die Menschheit hat die Macht erlangt, die Welt umzugestalten und sie rationalisiert sich ihr Vorgehen als sei alles genau so richtig und wichtig so. Kohleabbau und Atomenergie müssen sein, weil wir sonst nicht genügend Strom zur Verfügung stellen können. Pflanzenschutzmittel müssen sein, weil wir sonst nicht alle ernähren können. Fleischkonsum muss sein, weil wir die tierischen Proteine zum Überleben brauchen. Krieg muss sein, um unsere Art zu Leben zu schützen. Kein Verbrechen an Mensch, Tier und Umwelt, dass wir nicht wegerklären könnten. Und wenn uns nichts mehr als Begründung einfällt, um unsere unerträgliche kognitive Dissonanz zu mindern, dann muss auch hier die Natur herhalten. Wir könnten halt nicht anders, es läge eben in der Natur des Menschen zu unterwerfen und auszubeuten.

Lessings interessantester und herausforderndster Gedankengang ist den hinduistischen (und buddhistischen) Ideen entlehnt:

„Vielleicht ist die geistige Wendung auf des Menschen vermeintliches ‚Innenleben‘ (daß heißt die Beschäftigung mit dem eigenen Ich) schon eine Art der Erkrankung und Stauung. Jedes natürliche und gesunde Wesen lebt unbewußt in irgendeiner Verschlungenheit, als Zelle eines höheren Kreises; aber es kennt diesen Kreis nicht und weiß nicht von ihm.“

Der Wille zur Unterwerfung

Was Lessing hier macht ist nicht weniger als der Angriff auf das komplette Selbstverständnis der denkenden Menschen. Die Abwehr dieses Gedankens wird das narzisstische Ich schon besorgen. Aber man sollte zumindest versuchen, das Dahinterliegende eine Weile zu erahnen. Beginnt der Untergang der Erde mit der Bewusstwerdung des Menschen? Sind wir das Übel? Und gibt es da überhaupt einen Ausweg? Ist die Geburtsstunde der Kultur, der Beginn des Dahinsiechens der Natur?

„Lebemaschinen, geschniegelt und seelenroh zugleich, selbst bewußt und selbstgerecht alle Werke der Geistigkeit aufsammelnd, genießend und erschaffend, als Eroberer und Herrenmenschen die ganze Erde übermächtigend, dank der bloß werktümlichen Überlegenheiten, … das ist Europa! das ist Amerika! … Der ‚Gebildete‘ Europas ist der schlimmste Seelenbarbare.“

Das war vor 100 Jahren. Wo stehen wir jetzt?

Theodor Lessings „Die verfluchte Kultur“ ist eines der herausragendsten und zugleich erschütterndsten, zum Nachdenken und vor allem Nachempfinden anregenden Bücher, das ich gelesen habe. Dabei geht es nicht um explizite Erschütterung, sondern um die frappierende Gegenwart. Eine Brandschrift über das Versagen der Menschheit. Eines der Bücher, das man gelesen haben sollte.

Das Buch ist sehr sachlich und informativ geschrieben - genau das habe ich auch erwartet. Ich interessiere mich schon länger für Serienmörder, im speziellen auch für Fritz Haarmann - was vermutlich auch damit zusammen hängt, dass ich in der Nähe von Hannover lebe. Stellenweise war es recht "trocken" geschrieben, dennoch fand ich auch diese Stellen spannend, was einfach an der Thematik lag. Die Sprache ist eher gehoben und stellenweise altertümlich, aber dennoch konnte ich es super flüssig lesen, nur manchmal wenn es sich um eine wörtliche Rede handelte, die in Mundart geschrieben war, hatte ich so meine Schwierigkeiten, weil ich damit erstmal nicht so viel anfangen könnte. Aber auch das ging nach einiger Zeit recht gut. Die Beschreibungen der Leichen und der Vorgehensweise von Haarmann sind sachlich, aber dennoch ziemlich heftig. Das mich dies erwartet, war mir aber von vornherein klar. Und gerade auf das war ich auch sehr gespannt, irgendwie. Ich hatte schon im Vorfeld einiges über Haarmann gehört, einiges davon wurde auch in diesem Buch erwähnt, anderes eher widerlegt. Wie er im Prozess reagierte fand ich schon irgendwie abstossend. In diesem Buch sind auch einige Bilder von Haarmann, seinen Wohnungen etc zu finden, dies hat mich sehr angesprochen, da ich mir die Umgebung so besser vorstellen konnte, als es mir anders möglich gewesen wäre. Ich kenne einige der beschriebenen Stellen in der heutigen Zeit, aber das ist überhaupt nicht mit damals zu vergleichen. Die Orte sind im Buch alle namentlich genannt, auch das finde ich super, denn so kann ich mich auch mal selbst auf Spurensuche begeben und mir anschauen, wie es dort jetzt aussieht und wo in Hannover sich alles abgespielt hat. Im Vorwort schreibt Michael Kirchschlager einiges über Theodor Lessing - dies war für mich sehr informativ, da ich über Theodor Lessing so rein gar nichts wusste. Dies Wissen war auf eine gewisse Art und Weise für das restliche Buch schon wichtig. Allen die sich für Serienmörder interessieren, kann ich dieses Buch auf jeden Fall empfehlen.

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