Cover des Buches Deutschland schafft sich ab (ISBN: 9783421044303)
Rezension zu Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin

Rezension zu "Deutschland schafft sich ab" von Thilo Sarrazin

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 13 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 13 Jahren
Sarrazins Sachbuch "Deutschland schafft sich ab" ist wohl das umstrittendste Buch des vergangenen Jahres gewesen. Auch ich - so gebe ich unverblümt zu - war angesichts der GEHÖRTEN Aspekte in den Medien sehr skeptisch und dem Mann sowie seinen Ansichten gegenüber negativ eingestellt. Aber man soll ja nicht beurteilen, was man nicht aus erster Hand erfahren hat, und so nahm ich mir die Zeit und las nun, in meinen besinnlichen Weihnachtsferien, diesen knapp 400 Seiten starken Wälzer, der gemeinhin als schwere Kost gilt. Zuerst einmal sei gesagt: Schwere Kost ist etwas anderes, zumindest dann, wenn man sich bereits fünf Jahre seines Lebens in einem universitären Hochschulstudium der Soziologie und Politikwissenschaft damit befasst hat. Im Vergleich zum Schreibstil Sarrazins gibt es tatsächlich hunderte andere Werke, deren "Genuss" um einiges schwerer fällt. Sarrazin schreibt sprachlich einfach, verwendet zwar hier und dort Fachbegriffe aus den entsprechenden Wissenschaften (aber es ist ja auch ein Sachbuch), bleibt aber insgesamt für den durchschnittlich gebildeten Bürger mit guten deutschen Sprachkenntnissen verständlich. Was an diesem Bestseller aber tierisch nervt, ist seine inhaltliche Inkonsistenz. Für mich war einfach kein roter Faden erkennbar, stattdessen wiederholt der Autor ein ums andere Mal, was er in einem kurzen, entsprechend betitelten Kapitel abschließend hätte darlegen können. So weiß der geneigte Leser nach nur ein paar Seiten, wie Herr Sarrazin zur Vererbung von Intelligenz steht, wie unterschiedliche Migrantengruppen bei PISA abschneiden oder warum Gebildete eher in die USA einwandern anstatt nach Deutschland. Da er solche Erkenntnisse aber sehr oft und in aller Ausführlichkeit wiederholt, wird dieses Werk so dick, wie es am Ende geworden ist - und es wird tatsächlich nervig. Der "literarische" Wert dieses Buches ist also eher unterdurchschnittlich. Nun wollen wir Herrn Sarrazin aber mal unterstellen, dass es nicht sein Ziel war, ein möglichst sprachlich ausgeklügeltes Meisterwerk zu schreiben - ihm ging es wohl mehr um Inhalte. Bekanntermaßen setzt sich der Autor mit Fragen der Sozial- und Bevölkerungspolitik auseinander und geht hierbei besonders auf die Fragen Migration und Integration sowie Demographie ein. Es wäre müßig und würde in diesem Rahmen sicherlich zu weit führen, seine Thesen zu erläutern und selbst Stellung dazu zu beziehen. Da ich mich in den vergangenen Jahren selbst v.a. im Bereich Demographie umfassend bilden durfte, sind mir viele von Sarrazins Zahlen und Fakten nicht unbekannt, auch einige Positionen bekannter Sozialwissenschaftler, aber auch Politiker und Philosophen habe ich bereits gehört. Es ist kein Geheimnis, dass die Sozialwissenschaften kein Feld sind, in denen ununterbrochen verifiziert wird - eher das Gegenteil ist der Fall. Und deshalb ist es nur logisch, dass die Ausführungen des Autors - jedes Autors eines sozialwissenschaftlichen Buches, das den Anspruch hat, "persönliche Ansichten" (S. 410) darzulegen und zu begründen - auch auf Widerspruch stößt. Mit diesem Widerspruch muss der Autor leben - und ich denke, das kann er ganz gut. Mein Widerspruch gegen die Ausführungen Sarrazins erstrecken sich v.a. auf den willkürlichen Umgang sozialwissenschaftlicher Begriffe und deren unterstellter Korrelation. So wird der Schichtbegriff ständig mit der beruflichen Position und damit einhergehend (!) mit Bildung gleichgesetzt, genauso wie Intelligenz bei Sarrazin automatisch etwas mit Leistung und Einkommen zu tun hat. Dass er davon überzeugt ist, dass Intelligenz in einem hohen Grade vererbt sei, betont er ja nicht nur ein Mal, blendet aber die soziale Umwelt und den Einfluss der Gesellschaft (außerhalb der Familie) weitgehend aus. Inwiefern die von ihm vorgeschlagenen "Lösungen" durchführbar, sozial oder was auch immer sind - darüber kann man sicher eine Nacht und mehr streiten. Mein Fazit am Ende dieses Buches: Wer mitreden will, muss es wirklich gelesen haben. Wer mitreden will, muss sich einzelne Thesen heraus greifen und auf diese eingehen. Vieles lässt sich widerlegen, gerade die unnötigen Pauschalisierungen ("die Migranten", "die Unterschicht") rufen zu Widerspruch auf. Inhaltlich ist für mich das Fazit, dass Sarrazin in einigen Punkten durchaus Nachdenkenswertes aufzeigt und benennt, dass er auch Lösungen vorschlägt, die ich in einiges Punkten als durchaus sinnvoll erachte. Aber auch ein Herr Sarrazin präsentiert hier meiner Meinung nach kein Allheilmittel, und die von ihm vielgerühmte Einwanderungs- und welfare-Politik der USA hat genauso Nachteile wie die gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Frankreich. Klar ist - er will mit diesem Buch provozieren und eine Diskussion anregen - und das hat er geschafft. Es wäre halt schön, wenn die notwendige Debatte um die Zukunft des Sozialstaates und Deutschlands allgemein an den Stammtischen etwas reflektierter geführt werden würde - und Sarrazins Buch trägt genau dazu in einigen Teilen eben NICHT bei. (P.S.: Ich habe die 1. Auflage gelesen, die also, in der es die Sache mit dem jüdischen Gen noch gibt. Dazu muss ich mich wirklich nicht auslassen, und aus nicht ersichtlichen Gründen (...) hat er es in der aktuellen Auflage ja auch weggelassen. Wenn Herr Sarrazin noch gesagt hätte, er habe da einen falschen Schluss gezogen, wäre es wirklich groß. So ist es eher scheinheilig)
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