Für Historiker, die eine farbige und spannende, ereignis- und personenreiche Geschichte erzählen wollen, ist das Leben des englischen Edelmannes und Ritters William Marshal (geboren um 1147, gestorben 1219) ein äußerst dankbarer Gegenstand. Jedem Kenner der englischen Geschichte im Hochmittelalter ist Marshal eine vertraute Figur, bewegte er sich doch jahrzehntelang im engen Umfeld der Plantagenet-Könige. Das allein wäre schon Anreiz genug, ihm eine Biographie zu widmen. Ein weiterer Anreiz besteht darin, dass Marshals Leben schon in den 1220er Jahren literarisch aufgearbeitet wurde. Seine Familie gab eine auf Altfranzösisch geschriebene, in Versen verfasste Biographie in Auftrag, in der Marshals lange Karriere, seine Leistungen als Ritter, Heerführer und Politiker gewürdigt wurden. Diese in einer einzigen Handschrift erhaltene Lebensbeschreibung ist aus zweierlei Gründen bedeutsam: Sie beruht auf den Erinnerungen vieler Zeitgenossen, die Marshall persönlich gekannt hatten, kann also ein beachtliches Maß an Authentizität beanspruchen, und sie ist eines der frühesten Beispiele einer mittelalterlichen Biographie, deren "Held" kein Herrscher oder Heiliger ist. Dank dieser Biographie lässt sich Marshal als Person besser erfassen als andere Adlige seiner Zeit. Thomas Asbridge macht in seinem Buch reichlich Gebrauch von der Biographie, betont aber immer wieder, dass sie aufgrund ihrer idealisierenden Tendenz mit Umsicht zu benutzen ist und wo immer möglich mit anderen Quellen abgeglichen werden muss.
In William Marshals Lebensweg spiegelt sich die turbulente Geschichte Englands zwischen 1150 und 1220. Diese Geschichte wurde schon oft erzählt, aber fast immer aus der Perspektive der Plantagenet-Könige. Heinrich II., Richard Löwenherz, Johann Ohneland - sie alle spielen natürlich eine wichtige Rolle in Asbridges Darstellung. Im Mittelpunkt steht jedoch Marshal, der schon zu seinen Lebzeiten als Verkörperung ritterlicher Werte und Tugenden gerühmt wurde. Asbridge begleitet seinen Protagonisten durch ein langes Leben, das Erfolge und Rückschläge gleichermaßen kannte und von zwei Leitmotiven bestimmt wurde: Dienst für das Königshaus einerseits (in wechselnden Positionen und Funktionen); sozialer Aufstieg andererseits. Marshal begann seine Karriere als jüngerer Sohn eines unbedeutenden Adligen. Was er im Leben erreichte, das hatte er seinem persönlichen Geschick und seinen Leistungen auf militärisch-politischem Gebiet zu verdanken. Vom Ritter und professionellen Turnierkämpfer arbeitete er sich hoch zum Heerführer, königlichen Ratgeber und reichen Grundbesitzer. Gekrönt wurde seine Laufbahn, als er nach dem Tode König Johanns (1216) die Regentschaft für den Kindkönig Heinrich III. führte, bevor er selbst hochbetagt starb. Asbridge zeigt Marshall als einen Mann, der in seiner Treue zum Königshaus nie wankte, der nie von den Plantagenets abfiel, auch wenn Heinrich II., Richard Löwenherz und Johann Ohneland schwierige, launenhafte und widersprüchliche Herrscherpersönlichkeiten waren, die bei vielen ihrer adligen Gefolgsleute immer wieder Untreue und Verrat provozierten. Auch Marshal bekam die Unberechenbarkeit der drei Könige zu spüren; mehrfach fiel er vorübergehend in Ungnade.
Asbridge erzählt in seinem Buch eine Geschichte, in der drei Stränge miteinander verschlungen sind: Die Geschichte der Plantagenets und des sogenannten Angevinischen Reiches (Angevin Empire); die Geschichte des europäischen Rittertums; die Geschichte einer Adelsfamilie. Asbridge kann auf diese Weise mehrere historische Dimensionen zusammenführen, sei es die hohe Politik, sei es die Entwicklung einer Kriegerkaste; seien es die Bemühungen eines Adligen wie Marshal, das Beste aus den Zeitumständen zu machen, um Ansehen und Besitz seiner Familie zu mehren. An vielen wichtigen historischen Ereignissen und Entwicklungen des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts war Marshal in der einen oder anderen Weise beteiligt. Er wurde in die innerfamiliären Zwistigkeiten der Plantagenets hineingezogen; er kämpfte im Dienst der Plantagenets gegen die französischen Kapetinger; er wirkte an der Konsolidierung der englischen Herrschaft über Wales und Irland mit; schließlich gehörte er zum Kreis der Barone, die die Magna Carta ausarbeiteten. Johann Ohneland wirtschaftete das Ansehen der Dynastie vollkommen herunter, und es war Marshals beherztem Eingreifen zu verdanken, dass die Krone nach Johanns frühem Tod nicht an einen französischen (!) Prätendenten ging, sondern an Johanns minderjährigen Sohn Heinrich (III.). Den Niedergang des Angevinischen Reiches, das in seinen Glanzzeiten von der englisch-schottischen Grenze im Norden bis zu den Pyrenäen im Süden reichte, konnte Marshal freilich nicht verhindern. Als er 1219 starb, war das anglonormannische Zeitalter, das 1066 mit der Eroberung Englands durch den Normannenherzog Wilhelm begonnen hatte, zu Ende. Das englische Königtum hatte nach und nach den Großteil seines Festlandsbesitzes verloren, darunter die Normandie.
Asbridges Buch ist wunderbar geschrieben, mit einer Erzählfreude, die auf jeder Seite spürbar ist, mit einer Begeisterung für das Thema, die den Leser ansteckt, und mit einer Sachkenntnis, die nicht professoral belehrend daherkommt, sondern ganz dem Ziel dient, dem Leser die Welt der englischen Könige, Edelleute und Ritter um 1200 verständlich werden zu lassen. Besonders interessant sind die Einblicke in die Ausbildung und Lebensweise von Rittern und in die Methoden der Kriegsführung im 12. Jahrhundert. Die wichtigste Leistung der Biographie besteht darin, dass Asbridge seine Akteure zum Leben erweckt. Er zeigt, von welchen hohen oder niederen Motiven sie angetrieben wurden, welche gesellschaftlichen Konventionen ihr Leben bestimmten, welcher ehrenvollen oder schnöden Mittel sie sich bedienten, um ihre Ziele zu erreichen. Die Dynamik der persönlichen Beziehungen zwischen den Plantagenet-Königen und ihren adligen Gefolgsleuten wird mit Händen greifbar. Fachhistorikern mag das Buch ein bisschen zu "romanhaft" daherkommen, aber allen Mittelalter-Enthusiasten bietet es eine ebenso unterhaltsame wie informative Lektüre. Ein rundherum gelungenes, im allerbesten Sinne populärwissenschaftliches Buch!
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Oktober 2015 bei Amazon gepostet)