Das Ideen nicht vom Himmel fallen, sondern sich langsam auch aus Strömungen der Zeit, aus Gedankengebäuden, Sackgassen, Atmosphären, aus Versuch und Irrtum generieren, das hat Jonathan Sperber in der vorliegenden, umfassenden Biographie durchaus hervorragend herausgearbeitet und miteinander in Beziehung gesetzt. Karl Marx zu verstehen als Kind seiner Zeit und in seiner Wirkung auch für seine Zeit (später dann darüber hinaus) ist sicherlich die angemessene Herangehensweise, statt diese Peron der Geistesgeschichte (wie so häufig) aus dem interpretatorischen Blickwinkel allein späterer Zeiten her zu betrachten.
Eine Prägung der Person, die Sperber immer wieder in seine Darstellung des Lebensweges (und damit auch des Arbeitsweges Marx) einfließen lässt. Was gerade im ersten Teil des Buches, „Prägung“ genannt, dem Leser die wesentlichen und wichtigen Einflüsse für das Denken von Karl Marx erschließt. Und das Ganze bietet Sperber in sehr flüssigem, gut lesbaren Stil an, der an der ein oder anderen Stelle (zum Beispiel in Hinsicht auf die Ehe- und Familiengeschichte) als persönlich und fast als „warm“ zu bezeichnen ist.
Wobei Sperber keineswegs in den Verdacht gerät, die kritische Distanz zum Objekt seiner Betrachtung zu verlieren. Schon in der Einleitung positioniert sich Sperber, indem er Marx nicht als „Visionär“ kennzeichnet, sondern, im Gegenteil, als einen Mann, der „rückwärts“ gewandt durchaus auch Kämpfe der Vergangenheit aktualisiert, der weniger der „modernen Welt“ gegenüber trat, sondern seiner eigenen Prägung in jungen Jahren und den sozialen und gesellschaftlichen Reibungen jener Zeit stark verhaftet blieb. Auch im Verständnis der ökonomischen Theorien seiner Zeit.
„Als einen „Propheten der Konsumgesellschaft“, mithin nutzbar zur Analyse eines globalisierten Kapitalismus, wie späterhin formuliert, sieht Sperber Marx nicht. Eher als jemanden, der die „Vision einer Wiederholdung der französische Revolution“ entfaltet und dabei hauptsächlich auf Theorien und Erklärungsmodelle der Welt zurückgreift, die im frühen 19. Jahrhundert Geltung hatten. Darüber hinaus für die Gegenwart einer globalen Wirtschaft aber wenig auszutragen haben. Mithin sieht Sperber Marx als eine sich „immer weiter entfernende“, ihrer Zeit verhaftete, rein historische Gestalt (ohne „Gegenwartswert“).
Wie immer man zu diesem (und anderen) von Beginn an gesetzten Urteilen über Werk und Wirkung stehen mag, eines tritt auf jeden Fall schon nach kurzer Zeit der Lektüre deutlich in den Raum. Sperber hat überaus gründlich recherchiert und sich tief auch in Nebenlinien, persönliche Geschichten, auch die Atmosphäre der Lebensorte Marx angeeignet und ist in der Lage, dies alles in ein lebendiges Bild einer ganzen Epoche einfließen zu lassen. Was dem Wesen von Marx sehr entspricht und nahe kommt, denn Zeit seines denkerischen Lebens hat sich Marx intensiv je mit den Gedankengebäuden, den sozialen Entwicklungen und den politischen wie ökonomischen Bewegungen seiner Zeit auseinandergesetzt. Und darauf umfassend in seinem Werk Bezug genommen und geantwortet.
All die Einflüsse, vor allem des Denkens von Hegel und die der (anti-hegelianischen) „Positivisten“ zeigt Sperber ebenso auf, wie die Familiensituation vom Aufwachsen an („Der Sohn“, „Der Student“, „Der Redakteur“, „Der Emigrant“, „Der Revolutionär“). Wesentliche Phasen der Prägung der Person, die Sperber in seiner Argumentation schlüssig und sehr fundiert recherchiert vorträgt . Eine Prägung, die sich in den späteren Jahren dann entfaltet („Der Kampf“ als zweiter Hauptteil des Buches vollzieht akribisch diese „Aktivistenjahre“) und eine, wie bekannt, starke Wirkung für das nächste Jahrhundert in sich trug (was Sperber im dritten Hauptteil des Buches zum Thema macht und auch hier die Frage nach der Rechtmäßigkeit dieser Wirkung kritisch aufwirft).
Sachlich und ruhig verbleibt Sperber bei all dem im Ton, führt alle Stationen und äußeren wie inneren Einflüsse Marx auf, zeigt ihn in seiner leidenschaftlichen Persönlichkeit in Briefen und Pamphleten, aber auch in ganz „privater“ Umgebung. Polemisch wird dieses Buch nie, einer Form der Würdigung als „historische Persönlichkeit von immensem Einfluss“ allerdings widersteht Sperber ebenso.
Informativ, detailliert und sorgfältig recherchiert, gelingt es Sperber sehr gut, Marx als Kind seiner Zeit in seiner Prägung darzustellen. Wieweit man seinem Urteil über die historische Wirkung der Person und die eben Nicht-Möglichkeit, die moderne Welt mit der Marxschen Analyse zu bewerten und zu beschreiben, folgt, das bleibt dann dem Leser selbst überlassen. Bestens informiert über Leben, Werk und Wirkung ist er nach der Lektüre durchaus.