Rezension zu "Der fremde Archivar" von Thomas Berger
„Von dir weiß man gar nichts, was machst du eigentlich mit deinem Geld?“ Mit diesen Worten wird der Roman eröffnet. Den als Frage getarnten Vorwurf richtet ein Kollege vom Hessischen Staatsarchiv Marburg an Achim Marquardt, den eponymen fremden Archivar, dem der Leser an einem bleichen Novembertag im Herbst seines Lebens, vier Jahre nach seiner Pensionierung, erstmals begegnet.
Der Herbst ist die Zeit, in der man das vergangene Jahr Revue passieren lässt, sich von ihm verabschiedet, es ist eine Zeit für Reflexionen, für lange Spaziergänge, kleine Wanderungen. Der Weg in literaler und metaphorischer Hinsicht ist eines der Grundmotive des Romans. Der Leser begleitet Achim auf seinen Spaziergängen durch sein Leben und die Natur und wird so über fast dreihundert Seiten in die Rolle des Beobachters und Zuhörers versetzt, die Achim, der sich als Gast auf Erden versteht, zeitlebens natürlich erschien (S. 119).
Was war Achim bloß für ein Mensch… Er war nah und fern zugleich, äußerlich zugewandt und innerlich von trennender Herbheit …, fragt sich seine Freundin Simone bei einem gemeinsamen Gang durch den Botanischen Garten, als sie den Eindruck gewinnt, er interessiere sich mehr für die Pflanzen als für sie (S. 47). Achim ist ein in sich ruhender, ungewöhnlicher und vielschichtiger Mensch, in dem ich als Leserin viel Fremdes, aber auch viel Vertrautes entdeckt habe und den ich mit seinen Eigenheiten, seiner Offenheit, seinen kleinen Transgressionen und seiner Liebe zur Freiheit nicht anders als sympathisch finden kann, mit dem ich im wörtlichen Sinn mitleide oder mitfühle.
Das Naturalienkabinett, in dem Achim seine Sammelleidenschaft lebt (S. 89), erinnert an die Kunst- und Wunderkammern der Frühen Neuzeit mit ihrer Verbindung von Geschichte, Kunst und Natur. Die Wunderkammer ist ein Mikrokosmos, der die sich stets wandelnde Natur wertschätzt, sie zu etwas Unwandelbarem macht und so vor dem Verfall bewahrt, aber gleichzeitig auch beherrschbar macht. „Etwas gänzlich Nutzloses zu tun, zeugt von großer Freiheit.“ (S. 91) ist einer meiner liebsten Sätze aus dem Roman, ein Satz, mit dem Achim der Kritik begegnet, dass solche Sammlungen vollkommen nutzlos seien.
Die Beobachterrolle bezieht sich nicht allein auf die gegenständliche Welt, sondern auch auf die Menschen. Mit großem Vergnügen saß ich in Gedanken neben Achim, wie er bei der Beobachtung des Nachbarhauses seiner Schaulust frönt (S. 132), und ich nahm Anteil an den zahlreichen Begegnungen in seinem Leben, mit Kollegen, seinen Geschwistern, seinen Gefährtinnen. So verbringt er ein paar Tage mit seiner Freundin Lisa in Paris. „Es waren Momente, in denen Achim die Anwandlung befiel, mit jemandem fest verbunden sein zu können, nicht allein sein zu müssen.“ (S. 99f.)
Abstand und Nähe sind Themen, die im Roman immer wieder begegnen, verdichtet in der Parabel von den Stachelschweinen, die im Winter aneinanderrücken müssen, um sich zu wärmen, aber nicht zu nahe, um sich gegenseitig keine Schmerzen zuzufügen (S. 184), und kulminierend zum einen in der Großen Seuche (S. 250), die allerdings weder für Achim noch in dem Roman eine große Rolle spielt, und zum anderen in einem nachdenklich stimmenden Finale.
Alles in allem ist es ein reicher, dichter, traurig machender, erheiternder Roman, einer, der mit großer sprachlicher Kunstfertigkeit so viele Themen anspricht, dass sie in ihrer Fülle Stoff zum Nachdenken für zahlreiche Spaziergänge bieten.