Cover des Buches Der Jonas-Komplex (ISBN: 9783100024640)
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Rezension zu Der Jonas-Komplex von Thomas Glavinic

Die Frage nach der Identität

von serendipity3012 vor 8 Jahren

Rezension

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serendipity3012vor 8 Jahren
Die Frage nach der Identität

Vielleicht hilft es, wenn man schon mal einen Roman von Thomas Glavinic gelesen hat. Vielleicht ist es auch ganz egal. Für mich war „Der Jonas-Komplex“ ein gleich zweifaches Wiedersehen: Der Roman hat drei Handlungsstränge. Im ersten lesen wir aus der Sicht eines Wiener Autors von seinem Jahr 2015: Der Roman beginnt am 1. Januar und endet am 31. Dezember. Ein Wiener Schriftsteller, damals auch ganz eindeutig Thomas Glavinic genannt, war schon Protagonist im Roman „Das bin doch ich“. Hier nun hat der Schriftsteller keinen Namen, aber man kann gar nicht anders, als den Autor vor sich zu sehen – wobei das den echten Thomas Glavinic inzwischen nervt, wie auf Lesungen und Gesprächen vor und zur Leipziger Buchmesse immer wieder zu hören war, natürlich ist er nicht sein Romanheld. Angesichts des sehr ausschweifenden Konsums von Koks und Alkohol des Autors im Buch dürfte das einerseits klar sein (wann sollte ein stets zugedröhnter Autor 750 Seiten schreiben?) und ist andererseits durchaus beruhigend.

Mein zweites Wiedersehen betrifft die Figur Jonas, so etwas wie eine Lieblingsfigur Glavinics, sowohl in „Die Arbeit der Nacht“, als auch in „Das Leben der Wünsche“ und zuletzt in „Das größere Wunder“ tauchte er auf – und wieder nicht. Denn all diese Männer hatten Gemeinsamkeiten, sind aber nicht die gleiche Figur, eher bewegen sie sich in Parallelwelten (auch dies eine Erklärung des Autors selbst). Der „aktuelle“ Jonas hat mit dem aus dem letzten „Jonas-Roman“ am meisten gemeinsam, diesmal ist sogar seine Biographie, soweit sie thematisiert wird, identisch. Auch seine große Liebe Marie ist wieder dabei, allerdings ist sie diesmal Neurochirurgin und nicht wie in „Das größere Wunder“ Sängerin. Hat Jonas dort noch allein versucht, den Everest zu besteigen, so ist es diesmal Marie, die unbedingt mit ihm zusammen zum Südpol will.

Den dritten Protagonist kennt auch der langjährige Glavinic-Leser noch nicht. Es ist ein 13-jähriger Junge, der in der Weststeiermark bei einer Frau lebt, die er Uriella nennt und die nicht seine Mutter ist. Es ist das Jahr 1985, das uns nun wie das Jahr 2015 im ersten Handlungsstrang chronologisch erzählt wird. Der Junge ist Einzelgänger, ein sehr talentierter Schachspieler und die Verhältnisse, in denen er lebt, sind desaströs: Uriella ist ständig betrunken und bringt immer wieder andere Männer mit nach Hause. Sie ist alles andere als in der Lage, für den Jungen zu sorgen und ihm ein Heim zu geben. Es finden einige seltsame Übergriffe statt, die man als sexuellen Missbrauch klassifizieren muss.

All dies präsentiert uns Thomas Glavinic in seinem bisher umfangreichsten Roman „Der Jonas-Komplex“. Der Jonas-Komplex ist ein Begriff aus der Psychologie und er beschreibt die Angst vor der eigenen Größe bzw. dem eigenen Erfolg. Ein Phänomen, das durchaus auf alle drei Protagonisten anwendbar ist.

Wenn man Glavinic also schon mal gelesen hat, dann trifft man alte Bekannte, fühlt sich schnell wieder wohl. Wenn nicht, lernt man sie neu kennen und hat dabei interessante Begegnungen. Der Handlungsstrang um den Schriftsteller ist dabei eher lässig, oft komisch, manchmal aber für meinen Geschmack zu derb, zu ordinär. Der Stil einfach gehalten, klar und geradeheraus und voller Sprachwitz. Bücher über den übermäßigen Konsum von Alkohol und Drogen und über viel schnellen Sex mit verschiedenen Frauen gehören normalerweise nicht zu meiner bevorzugten Lektüre. Diese Stellen gerieten mir zuweilen zu lang. Aber mir gefällt, wie sich dieser Erzähler selbst nicht immer ganz ernst nimmt, manche Witze gehen dann auch auf seine Kosten. Zudem werden hier immer wieder aktuelle Ereignisse des Jahres 2015 aufgegriffen, die den Protagonisten beschäftigen, wodurch das Ganze aktuell in die Erlebniswelt des Lesers Einzug erhält. Den Jonas-Handlungsstrang zeichnet einmal mehr die ganz andere Stimmung aus, in die man als Leser gleich hineinversetzt wird, womöglich ein Resultat der Märchenhaftigkeit, die seine Geschichte ausstrahlt. Jonas hat fast alle wichtigen Bezugspersonen früh verloren, ist aber so reich, dass er alles tun kann, was er will – dadurch hat er auch mal etwas merkwürdige Ideen. Seine Geschichte ist unwahrscheinlich, ein bisschen wie ein Traum, wenn auch hier nicht so ausgeprägt, wie es früher schon der Fall war. Der 13-jährige Junge schließlich appelliert an das Mitgefühl des Lesers, so verloren wirkt er zuweilen. Aber er ist klug und stellt gute Fragen, sowieso ist der ganze Roman, nicht nur in diesem Handlungsstrang, voll von kleinen interessanten Gedanken.

Obwohl die Handlungsstränge unabhängig voneinander erzählt werden, gibt es ab und zu winzige Referenzen zwischen ihnen, sehr pointiert gesetzt. Der ganze Roman ist ein Spiel mit den Figuren, und auch mit Identitäten. Gibt es Zusammenhänge zwischen den Strängen? Wenn ja, welche? Wer sind die Protagonisten, wer wollen sie sein? Und was ist eine Identität? Bleibt sie immer gleich? Sind wir derselbe wie der, der wir vor 20 Jahren waren?

Am Ende steht ein Gedanke sowohl des echten Autors als auch aus seinem letzten Roman: Antworten werden überschätzt. Es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen. In „Der Jonas-Komplex“ gibt es jede Menge davon.
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