Cover des Buches Der Kameramörder (ISBN: 9783423135467)
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Rezension zu Der Kameramörder von Thomas Glavinic

Rezension zu "Der Kameramörder" von Thomas Glavinic

von zimmer vor 14 Jahren

Rezension

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zimmervor 14 Jahren
Der Ich-Erzähler und seine Lebensgefährtin verbringen das Osterwochenende bei einem befreundeten Pärchen in der Steiermark. Was als gemütliches Beisammensein über die Feiertage geplant war entpuppt sich schnell als emotionsgeladene Auseinandersetzungen der vier Protagonisten mit den Medien, die ununterbrochen über einen in der Nähe stattgefundenen, grausamen Mord an zwei Kindern berichten. Der Mörder habe zudem alles mit einer Videokamera aufgezeichnet und -- sehr zum Missfallen der beiden Paare -- befindet sich immer noch in der Gegend. Es ist absolut beeindruckend, wie Thomas Glavinic es schafft, mit einer reinen und eigentlich sehr emotionslosen Nacherzählung der Feiertage eine dermaßen kühle, bedrückende und bedrohliche Atmosphäre zu schaffen. Nicht nur das. Durch die teils akribische und neurotisch detaillierte Schilderung der Geschehnisse haucht der Ich-Erzähler den Charakteren unglaubliches Leben ein. Da gibt es erwachsenen Lausbuben Heinrich, der bei der Medienflut immer noch nicht genug hat um seine Sensationsgeilheit zu stillen und gerne unangebrachte Witze macht, die bei den Frauen der Runde ganz und gar nicht ankommen. Und doch weiß er, wie in er in gewissen Augenblicken richtig handeln muss, um kein Drama zu riskieren. Dann seine Frau, Eva, anfangs etwas promisk geschildert, wird sie schnell mit der Berichterstattung des Mordes zu einer sehr sensiblen und zerbrechlichen Person, die wohl am meisten mit der Medienpräsenz zu kämpfen hat. Sonja, nach dem ersten Erwähnen nur "meine Lebensgefährtin" genannt, die anscheinend für den Ich-Erzähler unter "ferner liefen" zu verbuchen ist und erst gegen Ende ihren großen Auftritt hat. Und natürlich der Ich-Erzähler selbst, der sich merkt wie viele Wespen er verscheuchen musste, der darauf achtet nicht im gleichen Schritt die Treppen hochzugehen wie seine Lebensgefährtin, der sich an Tischtennisergebnisse erinnern kann und immer wieder weitere, teils nebensächliche Details des Osterwochenendes preisgibt. Immerhin wurde er ja gebeten, alles aufzuschreiben. Wirklich alles. Und das macht er auch, beinah schulaufsatzartig, mit einem Hang zu überaus hochgestochenen und dadurch sehr kreativen Beschreibungen allgegenwärtiger Handlungen. Wo sonst erfährt man, dass bei einem Auto "dessen erhitztes Blech von der Sonne erheblich aufgeheizt war und Berührungen strengstens verbot"? Für mich als Kurz-Kapitel-Fanatiker war es darüber hinaus sehr erstaunlich, wie gut mich ein Roman doch halten konnte, wenn es nicht auch nur einen Kapitelwechsel im gesamten Stück gibt. Nicht nur das, es existiert nicht einmal ein Absatz. Und dennoch lässt sich das Geschriebene äußerst flüssig und leicht lesen. Und während man die 160 Seiten liest, will man das Buch sowieso nicht mehr aus der Hand legen. Der Ich-Erzähler pendelt in seiner Nacherzählungen zwischen den Freizeittätigkeiten der Paare und den Berichterstattungen aus Fernsehen, Zeitung und Teletext. Beides wird äußerst distanziert dargestellt und vermischt sich so zu einem ungewöhnlichen, beunruhigenden Gesamten. Vor allem wenn das aufgezeichnete Todesvideo ins Spiel kommt und dazwischen wieder von den Chips und Erdnüssen die Rede ist, die das Publikum beim Betrachten futtert, fällt es oft schwer schnell zwischen den beiden Vorgängen hin- und her zuschalten. Genau das macht auch den Reiz des Buches aus und lässt dem Leser sehr viel Raum seine eigenen Emotionen in die Geschichte zu packen. Nur soviel: Der Mord, der in diversen Phasen immer wieder neu aufgerollt wird hat es echt in sich und ist trotz (oder gerade wegen) seiner distanzierten Schilderung nichts für zarte Gemüter. Und genau der lebt vor allem von dem, was man als Leser in die Geschehnisse hinein fühlt. Ein unglaublicher, literarischer Krimi, der nach dem Ende noch sehr lange nachhallt und durch den abrupten Schluss samt noch übereilter Lösung noch viele Fragen offen lässt. Diese kann dann der Leser für sich selbst beantworten.
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