2023 habe ich „Hannibal Rising“ von Thomas Harris gelesen. 2024 folgte dann „Roter Drache“. Dieses Jahr habe ich den letzten Band der Hannibal-Reihe gelesen, den ich zuhause stehen habe: „Das Schweigen der Lämmer“ aus dem Jahr 1990. Dieser Band ist mit Abstand der bekannteste der Reihe, nicht zuletzt wegen der großartigen Verfilmung, welche 1992 mit fünf Oscars ausgezeichnet wurde. Neben der besten Regie erhielten sowohl Jodie Foster als beste Hauptdarstellerin als auch Anthony Hopkins als bester Hauptdarsteller den Preis. Das Buch gehört somit wohl zu den Klassikern unter den Thrillern. Da ich von „Roter Drache“ eher enttäuscht war, hatte ich große Hoffnung, dass dieser Band wieder besser wird.
Die junge FBI-Anwärterin Clarice Starling ist noch in der Ausbildung, als sie um die Mithilfe in einem besonders schwierigen Fall gebeten wird. Das FBI ist auf der Suche nach dem Serienmörder Buffalo Bill, der bereits mehrere junge Frauen entführt, getötet und gehäutet hat. Ermittler Jack Crawford hofft, den inhaftierten Serienmörder und Psychiater Dr. Hannibal Lecter nutzen zu können, um ein Profil von Buffalo Bill zu erstellen. Doch Crawfords Verhältnis zu Lecter ist schlecht, deshalb schickt er Clarice ins Baltimore State Hospital zu dem Mann, den manche nur Hannibal, den Kannibalen nennen. Doch für Informationen über Buffalo Bill will Dr. Lecter im Austausch Details aus Starlings Privatleben wissen.
„Die Abteilung der Verhaltensforschung, die beim FBI für Serienmorde zuständig ist, befindet sich, halb unter der Erde, im untersten Geschoss der Academy in Quantico.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels. Das FBI in Quantico ist das erzählerische Zentrum dieser Geschichte. Quantico liegt im US-Bundesstaat Virginia und ist eigentlich nur bekannt für die dort befindliche FBI-Akademie, denn mit nicht einmal 600 Einwohnern ist sie geradezu winzig. Mit über 400 Seiten und 61 Kapiteln ist „Das Schweigen der Lämmer“ dicker als „Hannibal Rising“, aber weniger umfangreich als „Roter Drache“. Auch hier gibt es wieder einen auktorialen Erzähler, der retrospektiv im Präteritum berichtet. Dabei begleitet er verschiedene Figuren: Jack Crawford, Hannibal Lecter, Buffalo Bill, eines seiner Entführungsopfer sowie die Protagonistin.
Clarice Starling ist etwa 25 Jahre alt und eine fleißige, ehrgeizige sowie intelligente FBI-Anwärterin. Schnell stellt sich heraus, dass ihr Ehrgeiz nicht nur von ihrem Karrierewunsch angetrieben wird, sondern auch von ihrer schwierigen Kindheit. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater war Polizist und wurde im Dienst erschossen, als sie noch ein Kind war. Obwohl sie eine noch junge Frau ist, hat sie einen starken moralischen Kompass und Mitgefühl für die Opfer von Verbrechen. Ihr Drang, Schwache zu schützen sowie für Gerechtigkeit zu sorgen, ist ihr stärkster Antrieb und macht sie zu einer mutigen, bewundernswerten jungen Frau. Clarice wird als hübsche, junge Frau mit rötlichen Haaren, blauen Augen und einer schlanken, aber athletischen Statur beschrieben. Obwohl sie sich eher unscheinbar kleidet und scheinbar auch nicht schminkt, wird sie in der männerdominierten FBI-Welt oft nicht ernst genommen. Ihr Versuch, über ihre niedrige soziale Herkunft durch elegante Markenkleidung oder eine gehobene Sprache hinwegzutäuschen, zieht sich durch den gesamten Roman.
Ein Motiv, das ebenfalls kontinuierlich, aber subtil in „Das Schweigen der Lämmer“ eingearbeitet ist, und zur Qualität der Geschichte erheblich beiträgt, ist Sexismus. Clarice bewegt sich als junge Frau in einer Männerdomäne und muss sich immer wieder mit herablassenden Kommentaren, unterschwelligen Anzüglichkeiten sowie Anzweifeln ihrer Kompetenzen auseinandersetzen. Ständig hört sie Aussagen, wie dass sie mit ihrer guten Leistung die ganzen „Schlappschwänze“ (S. 49) blamiere oder dass „das FBI schon auf Mädchen“ (S. 17) zurückgreife. Wenn sie nicht hierarchisch herabgewürdigt wird, wird sie sexualisiert. Schnell wird deutlich, dass viele Männer nur unwesentlich besser sind als Dr. Lecters Mitgefangener Miggs, der Clarice bei ihrem ersten Besuch im Hochsicherheitstrakt sein Ejakulat ins Gesicht wirft. Man könnte fast sagen, dass Miggs seine Misogynie schlichtweg offener trägt. Diese gelungene Thematisierung gesellschaftlicher Missstände hebt diesen Band positiv hervor. Obwohl dieses Buch inzwischen 35 Jahre alt ist, hat sich daran nur geringfügig etwas geändert, deswegen ist es immer noch aktuell.
Harris hat einen klaren, aber manchmal etwas ungelenken Schreibstil. So verliert er sich gerne mal in ausschweifenden Beschreibungen von Orten, Waffen oder Autos, mit denen man als Europäer vielleicht weniger anfangen kann. Dieser Satz verdeutlicht das ganz gut: „Wie die sonntäglichen Scheidungsflüge von La Guardia nach Juárez ist die Firma Teil der Dienstleistungsindustrie für die gedankenlosen Brown’schen Bewegungen in unserer Bevölkerung“ (S. 57). Also ich war gedanklich schon bei den sonntäglichen Scheidungsflügen raus und habe mich lange gefragt, was das überhaupt sein soll. Die Dialoge sind hingegen sehr gelungen und durchdrungen von einem psychologischen Machtspiel, das die Figuren ausfechten. Insbesondere Hannibal Lecter ist eine faszinierende und gleichermaßen verstörende Figur. Die düstere und fast schon widerliche Atmosphäre löst gleichzeitig eine krude Faszination aus. Das Tempo bietet eine perfekte Balance zwischen tiefer Psychoanalyse und rasanten Schlagabtauschen. Auch die Detailgenauigkeit der Recherchearbeit ist sehr beeindruckend. Die akkurate anatomische Beschreibung von Nachtfaltern oder die Fehlerfreiheit der entomologischen Untersuchung hat mich sehr positiv überrascht. Stilistisch ist dieses Buch also gewiss das beste der Hannibal-Reihe.
Falls ihr euch fragen solltet, ob das Buch stark vom Film abweicht: tatsächlich kaum. Es ist eine grandiose Verfilmung, die sich insgesamt sehr getreu, oft sogar wörtlich an die Buchvorlage hält. Clarices Hintergrundgeschichte, Dr. Chilton als Dr. Lecters Antagonist und auch die Psyche von Buffallo Bill, die von Identität und Transformation besessen ist, gehen aus dem Film deutlich hervor. Was aus dem Film jedoch völlig gestrichen wurde, ist die Hintergrundgeschichte von Jack Crawford, der nach einem nervenaufreibenden Arbeitstag noch seine schwerkranke Frau Bella zuhause pflegt. Auch die Beziehung zwischen Dr. Lecter und Clarice endet in Nuancen anders. Vor allem Lecters letzter Satz im Film „Ich habe einen alten Freund zum Abendessen.“, fällt in dem Buch so nicht. Dennoch ist „Das Schweigen der Lämmer“ eine der besten Buchverfilmungen, die ich je gesehen habe, weshalb ich den Film absolut weiterempfehlen kann.
Zwischendurch habe ich immer wieder das Hörbuch gelesen von Uve Teschner genutzt. Teschner liest die ungekürzte Fassung wirklich grandios und findet ein angenehmes Tempo, sodass man sich schnell in der Geschichte verliert. So war ich fast schon überrascht, plötzlich das Finale des Buches erreicht zu haben. Da es insgesamt recht nah am Film ist, konnte mich der Abschluss nicht sonderlich verblüffen, und der Showdown wird im Buch verhältnismäßig schnell abgehandelt. An sich ist der Plot aber sinnhaft zu einem Ende gebracht. Tatsächlich hätte ich erwartet, dass das Buchende etwas mehr vom Filmende abweicht, um dem Plot der Fortsetzung „Hannibal“ den Weg zu ebnen. Obwohl mir „Das Schweigen der Lämmer“ wirklich gut gefallen hat, werde ich die Fortsetzung aber nicht lesen. Die Rezensionen von „Hannibal“ sind nämlich mit Abstand die schlechtesten der Hannibal-Reihe, wobei vor allem der Plot und dessen Inkohärenz zu den anderen Bänden kritisiert wird. Also habe ich mir eine Inhaltsangabe von „Hannibal“ durchgelesen und sofort verstanden, warum dieses Buch so vielen Menschen missfällt. Vieles passt hier nicht zusammen, insbesondere das Verhalten von Clarice Starling, weshalb die Hannibal-Reihe hiermit für mich ein Ende findet.
Insgesamt ist „Das Schweigen der Lämmer“ aus dem Jahr 1990 für mich der beste Band der Hannibal-Reihe. Thomas Harris‘ erfolgreichster Roman ist deutlich besser als „Roter Drache“ und auch überzeugender als „Hannibal Rising“. Das liegt vor allem an Clarice Starling als starker Protagonistin, die in ihrem Arbeitsalltag gegen Vorurteile und Sexualisierung ankämpfen muss, der düsteren und unheimlichen Atmosphäre, einem sehr gut ausgearbeiteten Plot sowie nicht zuletzt dem überzeugendsten Auftritt Hannibal Lecters mit seinen ikonischen Dialogen. Dennoch gibt es auch kleinere Schwächen wie einen teils ungelenken Schreibstil mit ausschweifenden Beschreibungen amerikanischer Automodelle oder eines recht zügig abgehandelten Finales. Deswegen hat es bei „Das Schweigen der Lämmer“ nicht ganz für ein Highlight gereicht. Vier von fünf Federn hat es sich jedoch absolut verdient. Dennoch wird dies vorerst mein letztes Buch von Thomas Harris sein, da ich an „Hannibal“ einfach kein Interesse habe.