"Die Porträts in diesem Buch lehren uns, dass jedes Gesicht einzigartig ist und besonders, in jeder Phase des Lebens. So wie auch der Charakter eines Menschen besonders ist und einzigartig." Das steht ganz am Ende dieses Werkes. Wenn solche völlig banalen Aussagen, denen man nur schwer widersprechen kann, mit einem hochtrabenden Habitus vorgetragen werden, lohnt es sich genauer hinzusehen.
Für jedes Lebensalter von Eins bis Hundert hat Thomas Kierok Fotos von Menschen gemacht. Und zwar immer in der gleichen Weise: "Vor schwarzem Hintergrund heben sich die Gesichter der Porträtierten ab, der Fokus liegt auf ihren Augen. Sie sind frontal zur Kamera ausgerichtet, schauen mit einem neutralen, sehr wahrhaftigen Gesichtsausdruck nach vorne. So, dass die Grenzen zwischen Betrachter und Betrachtetem verwischen. Es scheint geradezu, als würden die Porträtierten den Blick auf einen richten. Albrecht Dürers Selbstbildnis hat mich zu dieser innigen Form des Porträts inspiriert."
Mich verwirren solche Phrasen. Und davon gibt es viele in diesem eigentlich textarmen Buch. Jemanden vor die Kamera zu platzieren und ihm zu sagen, dass er mal möglichst neutral in eine bestimmte Richtung schauen soll – das ergibt dann ein Porträt? Weil jemand nah vor der Kamera sitzt, haben wir es mit einer innigen Form des Porträts zu tun? Wenn das alles so einfach ist, worin besteht dann die Kunst des Porträtierens?
Das Ganze läuft dann auch noch unter der Überschrift "Der Kreislauf des Lebens". Das Leben ist kein Kreislauf, jedenfalls nicht für ein einzelnes menschliches Individuum. Es beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Kierok bekennt, dass er "der menschlichen Schönheit auf besondere Art nahegekommen sei". Das sei ihm vergönnt. Ich weiß jedoch, dass es besonders älteren Menschen schwer fällt, etwas Schönes in ihrem Verfall zu entdecken. Im Buch wird das genaue Gegenteil behauptet. Kierok hofft, dass der Betrachter erkennt, "wie schön jeder Mensch ist, wie alle Menschen miteinander verbunden sind und wie kostbar das Leben ist".
Mich erinnern solche Phrasen immer an meine Schulzeit, an die Erklärung von Kunst. Wirkliche Kunst braucht keine Erklärungen oder nachgereichte Deutungen, weil sie einen direkt trifft und berührt. Oder verblüfft. Ganz anders ist es jedoch, wenn man mit irgendwelchen Phrasen konfrontiert wird, bei denen wenig selbstbewusste Zeitgenossen sich nicht mehr zu widersprechen trauen, obwohl sie ganz anders empfinden.
Wenn jeder Mensch schön ist, wozu gibt es dann diesen Begriff überhaupt? Tatsächlich handelt es sich bei einer solchen Behauptung um eine Lüge. Und jeder weiß das. Und gibt es für jedes Alter ein Gesicht, das es widerspiegelt? Eher unwahrscheinlich. Jeder weiß, dass manche Menschen älter aussehen und andere jünger als sie tatsächlich sind.
Bei diesem Buch handelt es sich einfach nur um ein handwerkliches Projekt, das mit einer eher fragwürdigen Idee vermarktet wird. Und handwerklich ist es gut gemacht. Mehr aber auch nicht.
Kunst oder einfach nur Handwerk?