Viele Neuerscheinungen im Bereich Biographien und historische Sachbücher verdanken ihre Entstehung Jubiläen und runden Geburtstagen. So ist es auch in diesem Jahr. Der dreihundertste Geburtstag der Kaiserin Maria Theresia (1717-1780) steht bevor. Lässt sich über die große Habsburgerin noch etwas Neues sagen? Diese Frage drängt sich unwillkürlich auf, wenn man sieht, wieviele Bücher für die nächsten Monate angekündigt sind. Ähnlich wie ihr Rivale Friedrich II. von Preußen gehört Maria Theresia zu jenen Monarchen, deren Leben und Regierung schon im 19. Jahrhundert gründlich erforscht wurde. Der österreichische Historiker Alfred von Arneth veröffentlichte zwischen 1863 und 1879 eine zehnbändige Monumentalbiographie der Kaiserin. Arneth edierte auch zahlreiche Quellen, etwa die Briefwechsel zwischen Maria Theresia und ihren Kindern. Mit seiner Biographie und seinen Quelleneditionen schuf Arneth ein breites Fundament, auf dem die weitere Maria-Theresia-Forschung aufbauen konnte. Kurz vor dem Ende der Habsburgermonarchie veröffentlichte Eugen Guglia 1917 eine zweibändige Biographie der Kaiserin, die rasch zum Standardwerk avancierte und auch heute noch mit großem Gewinn gelesen werden kann. Guglias Werk ist wunderbar geschrieben und eine der schönsten Herrscherbiographien in deutscher Sprache. Nicht von ungefähr brachte der Braunschweiger Archiv-Verlag 1999 eine hochwertige Reprint-Ausgabe dieses zeitlosen Klassikers heraus. Mit Guglias Biographie war alles Wesentliche über Maria Theresia gesagt. Das wissenschaftliche Interesse an der Kaiserin erlahmte, und es erschienen jahrzehntelang nur noch populärwissenschaftliche Biographien, die aus Sicht des Fachhistorikers als belanglos gelten können. Genannt seien die Bücher von Peter Reinhold (1957), Edward Crankshaw (1969, auch auf Deutsch) und Franz Herre (1994).
Jeder Historiker, der heute eine Maria-Theresia-Biographie in Angriff nimmt, sollte sich die Worte vergegenwärtigen, mit denen Guglia sein Werk beschloss: "Frühzeitig, schon bei ihren Lebzeiten, hat sich das Bild Maria Theresias so gestaltet, wie wir es heute sehen. Ihre allerersten Biographen haben die Hauptzüge ihres Wesens schon herausgefunden, und die folgenden haben im Grunde nichts getan, als mit neuen Worten das Alte wiederholt. Ihr Charakter gibt keine schwierigen psychologischen Probleme auf, hat keine Geheimnisse, die die Subtilität moderner Biographik reizen könnte." Wie berechtigt Guglias Feststellung auch heute noch ist, das erkennt man, wenn man Thomas Laus Biographie gelesen hat. Einmal mehr zeigt sich: Maria Theresia bietet kaum Angriffsfläche; man kann sich an ihr nicht produktiv reiben und abarbeiten. Trotz seines beachtlichen Umfanges bietet das Buch dem Kenner der Materie überhaupt nichts Neues. Lau hat keine unbekannten Quellen erschlossen, und er gewinnt Maria Theresias Persönlichkeit, Leben und Herrschaft auch keine originellen Beobachtungen und Wertungen ab. Lau geht nicht über das hinaus, was man schon bei Guglia lesen konnte. In stilistischer Hinsicht bleibt er weit hinter Guglia zurück. Maria Theresias Geburt und Tod bilden Anfangs- und Endpunkt des Buches. Auf ein Vorwort und eine Einleitung hat Lau verzichtet. Weder rekapituliert und würdigt er die Leistungen der älteren Forschung, noch wirft er die Frage auf, ob heutige Forschungsansätze das herkömmliche Bild von Maria Theresia bereichern oder verändern können. Lau zeigt Maria Theresia in Rollen, in denen sie schon hundertmal gezeigt wurde: Als streitbare Herrscherin, die den habsburgischen Länderkomplex, das Erbe ihrer Vorfahren, verteidigt und zusammenhält; als Reformerin, die Verwaltung, Justiz und Schulwesen behutsam modernisiert; als Matriarchin, die einer großen und immer größer werdenden Familie vorsteht. Laus Bild vom Wesen und Charakter der Kaiserin ist ganz dem traditionellen Dreiklang verpflichtet, der die Maria-Theresia-Literatur sei jeher prägt: Dynastischer Stolz; tiefe Frömmigkeit; Pflichtbewusstsein und Arbeitseifer.
Auch ein bilanzierendes Schlusskapitel fehlt. Maria Theresias vierzigjährige Herrschaft war eine bedeutsame Phase in der Geschichte der Habsburgermonarchie. Als Landesherrin in Österreich, Böhmen und Ungarn stellte Maria Theresia wichtige Weichen für die Entstehung eines modernen Staates. Sie hinterließ das Reich in einem anderen Zustand, als sie es 1740 von ihrem Vater, Kaiser Karl VI., geerbt hatte. Lau gibt sich keine Mühe, Maria Theresias Herrschaft in die langfristige Entwicklung des Habsburgerreiches einzubetten. Gemeinhin gelten Maria Theresia und ihr Sohn Joseph II. als Vertreter des sogenannten "aufgeklärten Absolutismus". Der Begriff taucht bei Lau nirgendwo auf. Lau lässt es durchweg damit bewenden, gut bekannte Fakten zusammenzustellen, ohne diese Fakten in einen übergeordneten analytischen und interpretatorischen Zusammenhang zu rücken. Ärgerlich sind nicht nur die inhaltlichen Mängel der Biographie. Man merkt, dass das Manuskript nicht sorgsam lektoriert wurde. Es fallen sprachliche Holprigkeiten, sachliche Fehler sowie falsche Zahlen- und Jahresangaben auf. Der Name des französischen Geistlichen und Diplomaten Bernis wird zu Barni verhunzt (S. 240). Maria Theresias Tochter Maria Karolina (geb. 1752) war nicht fünf Jahre älter als ihr Ehemann, König Ferdinand von Neapel (geb. 1751), sondern ein Jahr jünger (S. 324). Maria Ludowika, die Gemahlin Kaiser Leopolds II., brachte ihre 16 Kinder nicht im Zeitraum von 1767 bis 1780 zur Welt (S. 312), sondern zwischen 1767 und 1788. Im Kapitel über den Tod Karls VI. heißt es, "Herz und Zunge" des Kaisers seien getrennt vom Leichnam beigesetzt worden (S. 41). Dass die Habsburger Körper, Herz und Eingeweide getrennt bestatten ließen, ist bekannt; eine Entfernung der Zunge war jedoch nicht üblich. Oft nennt Lau Maria Theresia "Ihre Majestät". Das führt zu gestelzten Formulierungen, die aus einem offiziösen Hofjournal stammen könnten: "Ihre Majestät hatte der Fasanenjagd zu Schönbrunn beigewohnt" (S. 377). Fazit: Thomas Laus Buch ist keine Bereicherung der Maria-Theresia-Literatur.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Januar 2017 bei Amazon gepostet)