Eine Pandemie erzeugt eine unmittelbare Spannung zwischen dem Individualismus und dem Gemeinwohl. Dieses Motiv beschreibt Thomas Mullen im Nachwort zu seinem fiktionalen Roman „Die Stadt am Ende der Welt“, der jedoch auf wahren Begebenheiten beruht. Dabei geht es um die Spanische Grippe 1918, die in den USA jahrzehntelang in Vergessenheit geriet und durch das Medieninteresse am damals sog. Großen Weltkrieg verdrängt wurde. Durch die Corona-Pandemie Ende 2019 erhielt der Roman aus dem August 2006 eine brisante Aktualität. Merkwürdigerweise gerät die neuerliche, überstandene Pandemie erneut in eine Art Unbeachtlichkeit, obwohl es noch nie so viele Informationen wie heute gab.
Ausgangslage für Mullen war der Konflikt, was die Bewohner einer Stadt unternähmen, wenn sie sich von einer grauenvollen Todeskrankheit bedroht sähen. Würden sie sogar zur Selbstjustiz greifen, nur um sich und ihre Lieben zu schützen? 1918 passierte genau das. Überliefert sind Grenzposten mancher Gemeinden, um den Tod auszuschließen. Das Buch greift diese Situation auf. Eine autarke Außenseitergemeinschaft rund um die wirtschaftliche Prosperität eines Sägewerks – der fiktiven Stadt namens Commonwealth, die als Folge des tatsächlichen Everett-Massakers, der blutigen Niederschlagung eines Arbeiteraufstandes, gegründet wurde – versucht sich gegen das üble Schicksal ihrer Nachbarstädte zu behaupten. Am Grenzposten tauchen bald Hilfesuchende auf. Zunächst desertierende Soldaten, denn es sind auch die Zeiten des Kriegseintritts der USA in den 1. Weltkrieg. Später wird dieses Verhalten auch von den Nachbargemeinden kritisch beäugt und angefeindet.
Mullen gelingt es, eine epische Familiengeschichte rund um Charles, den Gründungsvater dieser Sägewerkskommune, zu entfalten. Seine Frau Rebecca ist eine kluge Beraterin, seine Kinder Philip und Laura von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Geschehnisse. Nicht zuletzt die Romanze zwischen Philip und Elsie treibt auch zarte Blüten. Das Schicksal von Philips Freund Graham und seiner jungen Familie verleiht den Gewissenskonflikten eine besonders große Tiefe. Das Buch liest sich sehr flüssig, mit farbenprächtigen Bildern, die mir als Leser die Kulissen auferstehen ließen. Die Schicksale der einzelnen Figuren sind sehr berührend und dank der hervorragenden Recherche zu der Spanischen Grippe auch authentisch geraten. Zuletzt spitzen sich die Ereignisse zu. Die Leserschaft erwartet ein Showdown, der höchste Spannung aufbaut.
Das Buch ist wegen seiner damals fast prophetischen Beschreibungen zu einer Pandemie nicht nur als Rückblick gelungen, denn es funktioniert auch als Warnung für die Zukunft. Ganz überraschend ist das bei näherer Betrachtung aber nicht, wie Mullen selbst zugibt. Wissenschaftlich geht man etwa alle einhundert Jahre von einer Pandemie aus. Die Corona-Weltkrise war daher zu erwarten und überfällig. Und auch die nächste Pandemie wird mit Sicherheit eines Tages kommen. Ich hoffe, dass es dann eine bessere Lösung als eine Stadt am Ende der Welt gibt. Aber ich bin mir sicher, dass auch dieses Buch dann wieder viele Leser:innen finden wird, die von Neuem staunen werden.