Rezension zu "Schwarzes Wasser (DuMont True Tales)" von Birgit Lutz
Viele Menschen schreiben in Gedanken alles, was bisher gewesen ist, linear fort: Wenn etwas immer gut gegangen ist, wird es auch weiter gut gehen. Diese Denkweise verblüfft schon etwas, weil sie Demut offenbar nicht kennt. Besonders heikel wird sie allerdings, wenn jemand, der ein tödliches Risiko eingeht, dieses Schema tief in seinem Unterbewusstsein verankert hat.
Thomas Ulrich gehört zu den Menschen, die vom Abenteurertum leben. Die innere Logik dieses Geschäftsmodells zwingt zu immer waghalsigeren Unternehmungen, denn ansonsten fällt man kaum auf. Und wer nicht im Mittelpunkt des Interesses steht, verdient eben auch nicht viel. Ulrich kam also irgendwann auf die Idee, vom nördlichsten Punkt Russlands übers Eis viele hundert Kilometer allein und ohne jegliche Hilfe (von einem Satellitentelefon abgesehen) über den Nordpol bis in den Norden Kanadas zu ziehen. Damit wollte er einfach beweisen, dass so etwas möglich ist.
Nun kann man sich schon fragen, wen das eigentlich interessieren soll und was ein solcher Beweis eigentlich wert ist. Die Besiedlung Kanadas oder Russlands von der jeweils anderen Seite hat so mit Sicherheit nicht stattgefunden. Mehr noch: Wenn man bei diesem aberwitzigen Versuch seine Frau und drei kleine Mädchen zu Hause in der Schweiz lässt, kann man schon auch noch andere Fragen stellen. Wer sich zwangsweise in die Öffentlichkeit begeben muss, um die fürs Geschäft nötige Aufmerksamkeit zu erlangen, zieht auch Moralisten an, die ihrerseits die Öffentlichkeit suchen, um ihre scheinbare Überlegenheit über andere demonstrieren zu können. So lange das Abenteuer gut ausgeht, kann man das vielleicht verkraften. Schwierig wird es hingegen beim Scheitern.
Und Ulrich ist krachend gescheitert. Liest man diesen Bericht, dann muss man sich darüber hinaus auch noch über sein Verhalten während dieser Katastrophe wundern, denn es zeigt, dass er mental überhaupt nicht auf das Risiko eines Scheiterns vorbereitet war und die körperlichen Anstrengungen völlig unterschätzte. Er kam nur wenige Kilometer weit, war dann auf einer abdriftenden und sich auflösenden Scholle gefangen. Übrigens offenbart sich hier auch eine unfreiwillige Komik bei den Machern dieses Büchleins, heißt doch der Untertitel „Vier Tage gefangen im ewigen Eis“. Ulrich hätte sich über ewiges Eis sicher nicht beschwert, nur leider hat sich das Eis auf dem er festsaß, mit zunehmender Geschwindigkeit aufgelöst.
Dieses kleine Büchlein liest sich schnell und gut. Neben der eigentlichen Geschichte schildert es auch, was nach Ulrichs Scheitern passierte und diskutiert ethische Fragen, die man sich angesichts dieses Vorhabens stellen kann, wenn man den Abenteurer nicht gleich als Spinner abtut, was sicher auch eine gewisse Berechtigung besitzt. Dem Format dieser Reihe ist offenbar auch die Kürze der Geschichte geschuldet, die andere Rezensenten kritisieren. Da Ulrich als Autor aufgeführt wird, muss man die Darstellung, so wie sie ist, akzeptieren. Niemand wird aus einem Scheitern, das das nachfolgende Leben schwerwiegend beeinflusst hat, besonders gerne eine Veröffentlichung bis in alle Einzelheiten machen, zumal er sich auf seiner Scholle nicht mit Ruhm bekleckert hat.
Immerhin kann man auch dankbar dafür sein, dass man überhaupt Einblicke in die vielleicht doch etwas sonderbare Denkweise eines solchen Menschen bekommt.