Nachdem der vierzehnjährige Anselmo seine Eltern durch die Pest verloren hat, findet er Aufnahme bei seinem Onkel Giovanni, einem Kapuzinermönch, der derzeit in einem Konvent, einer Art Einsiedelei lebt. Doch was für ein Unterschied ist dieses karge Mönchsleben für den Jungen aus Perugia, dessen Vater als Arzt an der Universität Medizin lehrte und in dessen Elternhaus Künstler und Wissenschaftler ein und aus gingen! Bei den Kapuzinern wartet ein Leben in Armut und Entsagung auf den traurigen Jungen, mit dem er sich nur schwer anfreunden kann.
Doch dann findet er in Giovannis Werkstatt, in der dieser alles für den Konvent notwendige herstellt, was man selber bauen kann, einen Kasten mit Zeichnungen, die von dem großen Leonardo da Vinci höchstpersönlich stammen und die dem ehemaligen Schreiner Giovanni vom Meister selbst übereignet wurden, weil dieser seine Unterlagen im Angesicht des nahen Todes geordnet hinterlassen wollte und weil er jemanden brauchte, der die Zeichnungen seiner Konstruktionen und Maschinen nicht nur verstand, sondern auch zu würdigen wusste.
Anselmo, der wie der Universalgelehrte von einer großen Neugierde besessen ist und besonders gerne Vögel beobachtet und Skizzen von ihnen im Flug anfertigt, ist sofort gefesselt! Er vertieft sich in die Zeichnungen und erkennt bald, dass Leonardo mit Flugapparaten experimentierte, deren Konstruktion er minutiös festgehalten hat.
Von nun an ist der Junge geradezu besessen davon, die Apparate selbst nachzubauen, zuerst heimlich, dann zusammen mit Giovanni - und als beider heimliches Treiben schließlich von den Mitbrüdern des Onkels entdeckt wird, kommt es zu Problemen! Denn Fliegen - das ist Gotteslästerung, das bedeutet, sich über den Schöpfergott zu erheben. Doch dank Anselmos überzeugenden Argumenten lassen sich die Kapuzinerbrüder von dem Eifer der beiden Baumeister anstecken und geben ihnen die Erlaubnis, mit ihren Experimenten fortzufahren. Das geht so lange gut, bis die strengen Franziskaner in ihrem Kloster in Assisi von den Vorgängen in der Einsiedelei Wind bekommen - und sich auf den Weg machen, um der Gotteslästerung ein Ende zu setzen....
Die beiden Autoren haben ein sehr informatives und spannendes Buch für junge Leser geschrieben und mit detaillierten Zeichnungen versehen, sobald es um den Nachbau der Flugmaschinen geht, und anderen eher unscharfen, an naive Malerei gemahnende Bilder, wenn Alltag und Arbeit der Kapuzinerbrüder als auch Landschaften illustriert werden sollen. Eine interessante Mischung, die der fesselnden Geschichte ihren besonderen Reiz gibt!
Ursprünglich, wie schon erwähnt, für Kinder gedacht, fasziniert das Buch jedoch auch ebenso erwachsene Leser, denn der Hintergrund, vor dem sich Anselmos fiktive Geschichte abspielt, ist einer Zeit entnommen, die sicherlich nicht Allgemeingut und jedem erwachsenen Leser vertraut ist. Es ist die Zeit nach Leonardo da Vincis Tod, genauer gesagt zwanzig Jahre danach, denn die Handlung spielt im Jahre 1539. Der Leser jeder Altersgruppe erfährt auf sehr verständliche, aufs Wesentliche reduzierte Art und genau auf den Punkt gebracht eine ganze Menge über den Meister selbst, dessen Interesse für die Welt um ihn herum keine Grenzen kannte, dessen Neugierde unersättlich war und den es nie lange an einem Ort hielt, der selten auch Dinge, die er begann, zu Ende geführt hat.
Die Zeit war reif für einen wie ihn, denn das Mittelalter war vorüber und die Renaissance setzte ein und mit ihr eine Zeit der großen Entdeckungen und Erfindungen und einem Auf-den-Kopf-stellen des damaligen Weltbildes. Es war die Zeit, in der Erkenntnis und Vernunft sich zur göttlichen Lehre gesellten und mit ihr in Konkurrenz traten. Was wiederum die Inquisition auf den Plan treten und sie ihr allseits bekanntes und berüchtigtes Unwesen treiben ließ!
Und damit ist die Brücke gebaut zu unsren Kapuzinern, die neben Anselmo die Protagonisten des lesenswerten Werkes von Meyer und Spangenberg sind und die sich von den Franziskanern abgespalten hatten und damit eine religiöse Gegenbewegung ins Leben gerufen haben. Auch sie wurden von der Inquisition verfolgt, deren ausführende Organe Dominikaner- und Franziskanermönche waren, und mussten sich daher in acht nehmen.
All das kommt wunderbar zum Ausdruck in der Geschichte, in deren Zentrum doch eigentlich die Neugierde eines Jungen steht, der es sich in den Kopf gesetzt hat, Leonardos Flugmaschinen nicht nur zu bauen, sondern auch auf ihre Tauglichkeit hin zu prüfen.
Fazit: ein sehr gehaltvolles, kurzweiliges und außerordentlich mitteilungsfreudiges Buch, das auf gerade mal 79 Seiten Leonardos Zeit, eine Zeit des Umbruchs, so zum Leben erweckt, dass der Leser eine unmittelbare Nähe zu dem neugierigen Genie und seinen originellen Ideen, als auch großartigen Werken verspürt, die sich eben nicht auf "La Gioconda", die weltberühmte Mona Lisa, oder das Abendmahl-Fresko reduzieren lassen!