Rezension zu "Treue Seelen" von Till Raether
Schon die ersten paar Minuten haben mich richtig geflashed: Das Buch hat mich gefühlt sofort in die BRD der 80er gebeamt. Das fängt schon beim Figurenensemble an, in dem Häuserblock in Zehlendorf wohnen Beamte mit ihren Familien – alle haben mich so an die Freund*innen und Bekannte meiner Eltern erinnert. Achim und seine Lebensgefährtin Barbara sind die neuen und Achilm findet Nachbarin Marion gleich besonders interessant. Till Rather flicht zusätzlich viele Kleinigkeiten ein, alles bewirkte, dass ich diese Zeit sofort in meinem Kopf hatte. Auch, wenn ich vor der Wende nie in West-Berlin war, fand ich gerade diesen Mikrokosmos nochmal besonders spannend. Schon allein die ganz unterschiedlichen Kommentare und Herangehensweisen an die Katastrophe von Tschernobyl – der Roman spielt im Frühjahr und Sommer 1986 – hat Raether wundervoll beobachtet und beschrieben. Diese Zeitreise in die 80er konnte ich riechen, schmecken und fühlen.
»Das ganze Land, hilflos in der Sehnsucht nach einem Ort, wo man dazugehörte, aber nicht mehr dabei war.«
Meist folgt der Roman der Perspektive Achims, Marions, Barbaras und Marions Manns, bekommen aber auch manchmal andere Gedanken mit. Dabei springt die Geschichte auch ab und an vor und zurück, um bereits bekannte Geschehnisse aus der anderen Perspektive zu erzählen.
Die Zeit hat manchmal ein etwas bräsiges Familienbild, aber das Frauenbild des Romans ist modern und die Protagonistinnen zeigen durchaus ein Bewusstsein darum.
Ich wollte schon länger mal ein Buch von Till Raether lesen, da ich seine Kommentare auf SocialMedia mag. Als ich die ungekürzte Lesung von Florian Lukas entdeckte, war die Wahl klar, da ich dessen T.C. Boyle Lesungen klasse finde. Und Lukas’ Lesung lässt mich zusätzlich in die Köpfe der Protagonist*innen und das Berlin der 80er eintauchen. Roman und Sprecher ergänzen sich einfach klasse.
Ab der zweiten Hälfte war mir dann einiges klar. Das Buch hat da für mich einen kleinen Durchhänger, den ich aber mit Lukas‘ pointierter Lesung gut überbrücken konnte. Mit Ost-Berlin wurde es dann wieder interessant – auch von der Figurenentwicklung.
Tolle Zeitreise in eine kleinbürgerliche Westberliner-Schicht der 80er-Jahre. 4 von 5 Sternen.