Tillie Olsen war mir bisher vollkommen unbekannt. Die 1912 in Nebraska geborene Tochter jüdischer Einwanderer aus Russland, die junge vierfache Mutter musste ihre fortschrittlichen politischen Ansichten mit künstlerischem Ehrgeiz und Brotarbeit unter einen Hut bringen. Ihre Kurzgeschichte "Ich steh hier und bügle" erschien in »Best American Short Stories of 1957«
Und mit dieser Story beginnt auch die kleine Sammlung an Kurzgeschichten in diesem Band.
Hier erzählt eine Mutter von ihrer Beziehung zu ihrer ältesten Tochter, die sie in den ersten Lebensjahren des Kindes allein großziehen musste, eine schwierige Beziehung, die trotz aller Liebe auch eine gewisse Distanz zwischen Mutter und Kind beinhaltet. Einer ihrer Nachbarn rät ihr "Sie sollten Emily mehr anlächeln, wenn sie sie ansehen" Dieser Satz ist in der Lage einer liebenden Mutter das Herz zu brechen, denn manchmal ist zwischen Alltagssorgen und Geldproblemen nicht viel Platz für Liebesbekundungen, die über saubere Wäsche und regelmäßige Mahlzeiten hinausgehen.
Mit dieser Story erfährt man als Leser gleich, was einen in diesem Buch erwartet, es geht um zwischenmenschliche Beziehungen und diese Beziehungen sind nie einfach, in "He, Seemann, wohin die Fahrt?" besucht der Seemann Whitey eine befreundete Familie, Whitey ist Alkoholiker, eine gescheiterte Existenz, dessen einziger Zufluchtsort die Familie Helens, sein sicherer Hafen ist. Doch auch dort sind die Umstände schwierig. Und doch versucht die Familie alles um Whitey zu helfen, wie es scheint vergebens.
In "O ja" besuchen wir gemeinsam mit der Hauptfigur Carrie einen Gottesdienst einer schwarzen Gemeinde, das Kind ist vollkommen überfordert von dem Ablauf, in dem die Gläubigen ihren Gefühlen, die sie sonst unterdrücken, freien Lauf lassen, das beschreibt die Autorin auf sehr eindringliche Weise und auch wie sehr die einzelnen Gemeindemitglieder Hilfestellung leisten, trösten und in die Arme nehmen. Dieses Verhalten habe ich bisher nie verstanden, erst nach der Lektüre dieser Geschichte habe ich verstanden. Gerade diese Geschichte ist die wohl schwierigste in der kleinen Sammlung, aber auch die wichtigste. Carrie versteht noch nicht, sie ist ein Kind, das hin- und hergerissen zwischen der Freundschaft zu Parry und dem Druck seitens der Schule und ihren dortigen Freunden. Die Freundschaft zu einem farbigen Kind kann zu der Zeit nicht bestehen, will man nicht als Außenseiter enden. Was bleibt ist die Hoffnung, wenn die Mädchen erst einmal erwachsen sind, sie ihre Freundschaft neu knüpfen.
In der letzten Geschichte "Erzähl mir ein Rätsel" geraten wir mitten in einen Ehestreit, während David das Haus, in dem sie ihre Kinder großzogen, verkaufen und in ein Altenheim mit Vollversorgung ziehen will, endlich frei von finanziellen Sorgen und Pflichten möchte, Eva bleiben, wo sie ist, die Stille und den Platz genießen, die weniger werdende Arbeit, die Freiheit dann zu essen, wann sie will, für sich sein.
47 Jahre, Streit, Liebe, Sorgen und Freude, wobei man fast denken könnte, dass der Streit in all diesen Jahren überwog, aus Evas Sicht war es sicher auch so, sie hat sich immer zurückgenommen, mit sieben Kindern blieb ihr auch nichts anderes übrig. Als David erfährt, dass Eva nicht mehr lange zu leben hat, schleppt er sie auf eine lange Reise zu all ihren Kindern ohne ihr den Grund zu verraten.
Die Menschen in Tillie Olsen Geschichten sind alle auf die eine oder andere Art miteinander verbunden, sie beschreibt sie nicht mit ihren körperlichen Merkmalen und doch hatte ich immer ein klares Bild von ihnen vor Augen und auch wie sie lebten konnte ich mir gut vorstellen, das hätte ich zu Beginn der Lektüre nicht erwartet, denn der Schreibstil der Autorin ist sehr knapp und sehr kurz, das muss man mögen. Ich mag ihn, einen ganzen Roman in diesem Stil zu lesen, wäre zwar sicherlich etwas anstrengend, aber in der vorliegenden Form ist die Lektüre zwar eine Herausforderung, aber auf eine gute Art, die mich am Ende zufrieden zurückließ.