Cover des Buches Dunkle Havel (ISBN: 9783954515073)
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Rezension zu Dunkle Havel von Tim Pieper

Mord in der Baumblüte

von karatekadd vor 9 Jahren

Rezension

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karatekaddvor 9 Jahren
Da liegt er nun vor mir, der neue Roman von Tim Pieper, der heute im Buchhandel erscheinen wird.
Das heißt, ich hab ihn schon seit einigen wenigen Tagen und es war mir eine Freude, ihn vorab lesen zu dürfen. „Viel Spaß beim Lesen.“ hat Tim hinein geschrieben und den hatte ich unbedingt.
Es sei mir gestattet, ganz kurz zurück zu denken. DER MINNESÄNGER, so hieß das erste Buch des 1970 in Stade geborenen Autors und schon dieses war ein sehr schöner historischer Roman, der umfangreiche Recherche erforderte, denn man hatte ja von Walter von der Vogelweide, und Wolfram von Eschenbach aber eher nicht von Hartmann von Aue gehört.
Die nächste Hauptfigur war einer der ersten Kriminologen, wenn auch ein Fiktiver. Der hieß Dr. Otto Sanftleben und er ermittelte in MORD UNTER DEN LINDEN und MORD IM TIERGARTEN. Also in Berlin um die Jahrhundertwende. Halt, ich meine die vor 100 Jahren. Der Gegenwartsroman, der nun erscheint, hätte traditionell auch „Mord in der Baumblüte“ heißen können.


* * *

Auch hier ermittelt an der DUNKLEN HAVEL ein Sanftleben, aber der heißt Toni und ist der Urenkel des oben genannten. Der ist vom hier beschriebenen Fall selbst betroffen und handelt in in der aktuellen Zeit, im Jahr 2014, wobei die Handlung im Jahre 1998 beginnt. Das sind schon Sprünge, die der Tim hier vorlegt.
Als die Geschichte beginnt, ist besagter Toni knapp über 20 Jahre alt, verheiratet und Vater eines Dreijährigen, als seine Frau während des Baumblütenfestes in Werder in der Havel „baden“ geht und nicht wieder „auftaucht“. Toni sucht, sucht, sucht, später fahndet er, denn er wird wegen dieses Falles Polizist. Sechzehn Jahre später, er ist Kriminalhauptkommissar und Teamleiter bei der Mordkommission, sucht er immer noch. Da geschehen nacheinender zwei Morde und bei beiden Leichen taucht ein Foto von Sofie auf. Das elektrisiert den Ermittler...

„Auf der Wasseroberfläche reflektierten kleine Wellen das Buglicht und die Steglaternen. In den Tälern sammelte sich die Schwärze. Nirgends wiederholten sich die Muster, nirgends gab es die gleichen Strukturen, überall erfand sich das Wasser neu. Auf viele Menschen hatte es eine beruhigende Wirkung, und doch konnte es den Tod bringen.“ (Seite 56)
Und alles deutet darauf hin...


* * *

Tim Pieper hat eine, man könnte sagen „piepersche“ Methode entwickelt, einen Roman spannend zu halten, dem Leser häppchenweise Brocken hinzuwerfen und die Identität des Täters möglichst lange nicht zu verraten. Er lässt diesen, oder auch die vermeintlichen Täter immer mal wieder auftreten und beschreibt dessen Sicht der Dinge auf das aktuelle Geschehen. Das hat er schon beim Linden- und beim Tiergartenmord so gemacht. (Ich muss die bald noch einmal lesen.) Trotzdem konnte der Leser nicht „ermitteln“, wer denn denn, verdammt nun mal, nun eigentlich er Täter ist.
Toni ist eine Figur, die zielstrebig arbeitet. Er wohnt mit seinem hochbegabten siebzehnjährigen Sohn, der an seine Mutter keine Erinnerung hat, auf einem Hausboot. Das ist doch schon mal interessant, wer möchte das nicht? Aber Toni hat auch ein Problem. Der Verlust seiner Frau führt zu Calvados. Das merkt der Leser schnell. Es ist eben nicht der große Held, der hammerharte Ermittler, der gegen Richtlinien verstößt, weil er eben der Macher ist. Toni Sanftleben hat ein Ziel und dem opfert er auch mal polizeiliche Festlegungen und legt sich mit seinem Chef an, der eine ziemliche karieristische Niete ist, von denen es anscheinend durchaus realpolizeiliche Entsprechungen gibt.
Seine Kollegen bleiben allerdings ein wenig blass.
Das Kriminologische kommt etwas zu kurz. Der „alte“ Sanftleben wies da etwas mehr auf, auch wenn der junge Sanftleben einen Lehrgang als Fallanalytiker besuchte, den er nicht abschloss. („Profiler“ sagt man heute neudeutsch dazu...) Ich finde, das wäre ein klein wenig ausbaufähiger gewesen. Einzelinteressen eines Lesers?

* * *
Außerdem schaut sich Tim die Handlungsorte ganz genau an. Zum Beispiel handelt eine Szene unter einem Brückenbogen der Augustusbrücke in Dresden. Dazu veröffentlichte der Autor auf seiner Internetseite auch ein Bild. (Als gebürtiger Dresdner bestätige ich gern die gesamte Dresden-Handlung – über die Möglichkeiten unter dem Brückenbogen gerieten wir allerdings vor zwei Tagen in Streit.)

Tim Pieper beschreibt gern Landschaften. Diesmal geht es um die Havelinsel Werder und um die Havel. Die Gegend ist uns auch aus den Geschichten um den „alten“ Sanftleben ein wenig bekannt. Zumindest kam sie mir bekannt vor. So zum Beispiel das Gutshaus Neukladow. Schaut euch mal die Handlungsorte im Tiergartenmord an.

* * *
Es war ein Genuss, Tim Piepers Buch zu lesen. Ein Genuss ist es auch, wenn man sich mit dem Autor "streiten" kann. So etwas passiert ja nun selten. Seien es Gegenden, die man kennt oder ob es darum geht, ob eine Polizeipistole nun einen außen liegenden Sicherungshebel hat oder nicht. Kleinkram, aber auch Salz in der Suppe. Zu empfehlen ist noch die Leserunde auf Lovelybooks. Es ist nicht die erste Leserunde mit Tim. Und ich sage euch, die machen riesigen Spaß.


* * *
Zum Schluss:
„Sie durchquerten das Wohnzimmer, das schon deutlich heller war, und betraten schließlich die Veranda, die mit großen Panoramafenstern ausgestattet war und einen phantastischen Blick auf die Nordsee bot. Bis zum Horizont schob der stürmische Wind Wolken zu einer dunklen Masse zusammen. An vereinzelten Stellen klafften Lücken auf. Sonnenstrahlen drangen hindurch und trafen auf das graue Meer, wo kleine silbrige Flächen entstanden, die schnell ihre Form variierten und sich plötzlich auflösten, um an anderer Stelle wieder zu erscheinen. Es war ein Naturschauspiel, dem man stundenlang zuschauen konnte. Endlich traute sich Toni...“ (Seite 250)
Ja was traut sich Toni Sanftleben auf Seite 250?

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