Schon mit seinen ersten Sätzen zieht Tobias Hürter den Leser in sein Buch "Das Zeitalter der Unschärfe: Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik (1895 - 1945)". "Stellen Sie sich vor, Sie finden eines Tages heraus, dass die Welt, in der Sie leben, ganz anders funktioniert, als Sie bisher glaubten. Die Häuser, Straßen, Bäume und Wolken sind nur Kulissen, bewegt von Kräften, von denen sie nichts ahnten."
Dann widmet er sich im ersten Kapitel seines Werkes nicht einem männlichen Genie auf dem Gebiet der Physik zu, sondern Marie Curie, die, wie in der Physik bisher üblich, nach der Ursache für radioaktive Strahlung fragt und erkennt, dass es keine gibt.
Max Planck fällt eine Formel zu, die er sich und anderen nicht erklären kann. Zuerst führt ihn die Formel zu den Atomen, dann zu den Quanten. Schließlich verkündet er: "Wir betrachten aber - und das ist der wensentlichste Punkt der ganzen Berechnung - die Energie als zusammengesetzt aus einer ganz bestimmten Anzahl endlicher gleicher Teile und bedienen uns dazu der Naturkonstanten h = 6,55 x 10 - 27 ergsec."
Er und andere Physiker versuchen, die Quanten wieder loszuwerden, aber sie bleiben.
"Der Patentierknecht" heißt das nächste Kapitel über Albert Einstein. Hürter versäumt es nie, auf warmherzige Art und Weise das Leben der Physiker und auch ihre Beziehungen untereinander zu beschreiben. Einstein quält sich im Patentamt mit der Stelle eines "Experten III. Klasse", nachdem er zuvor an der Universität keinen Erfolg hatte.
Durch Planck angeregt entdeckt Einstein, dass Licht, sämtliche elektromagnetische Strahlung, nicht aus Wellen besteht, sondern aus teilchenartigen Quanten. Trotzdem ist auch für Einstein die Quantentheorie etwas für "Verrückte".
Dass Dinge kleiner werden und langsamer altern, je schneller sie sich bewegen, ist noch nachzuvollziehen. Auch kann man sich eine Kugel vorstellen, die in ein schwebendes Tuch fällt, was die Krümmung des Stoffes zur Folge hat. Den Rest der allgemeinen Relativitätstheorie können wohl nur Physiker verstehen und vielleicht nicht einmal die.
Nachdem Einstein seine Formel E = mc² gefunden hat, wendet er sich wieder dem Strahlungsproblem zu. Einem Freund schreibt er: "Gegenwärtig habe ich große Hoffnung, das Strahlungsproblem zu lösen und zwar ohne Lichtquanten." Bohrs Atommodell und die Plancksche Strahlungsformel bringen ihn weiter. Jetzt hätte er sich wie Marie Curie vom Kausalprinzip der klassischen Physik verabschieden müssen, tat sich damit aber schwer.
"Gibt es denn gar keine Aussicht, dass wir die Atome je richtig verstehen?", fragt der junge Werner Heisenberg Niels Bohr. "Doch erwidert Bohr. 'Aber wir werden dabei gleichzeitig erst lernen, was das Wort verstehen bedeutet.’" Die Suche nach der tiefsten Quelle allen Verstehens wurde für Heisenberg der gemeinsame Ursprung von Religion und Wissenschaft.
"Ein Prinz bringt die Atome zum Klingen", heißt ein weiteres Kapitel. Der Prinz ist Louis Victor Pierre Raymond de Broglie. Er folgt Einstein und bestätigt, "als Welle und als Teilchen bewohnt das Licht zwei Systeme, es hat zwei Identitäten, und diese sind so entgegengesetzt wie die Gesichter des doppelköpfigen Janus."
"Heisenberg lässt die Sonne erlöschen und die scharf gezogenen Bahnen der Elektronen zu formlosen Wolken zerstieben", indem er sich auf die beobachtbaren Quantenzustände konzentriert und die Zwischenzustände ignoriert. Natürlich kommt es in Berlin mit dem Halbgott Einstein zum Disput. "Einstein ist überzeugt, dass es die Welt da draußen wirklich gibt und dass die menschliche Vorstellungskraft in der Lage ist, sie bis auf den Grund auszuloten. Heisenberg traut der Vorstellungswelt jenseits unserer Alltagswelt nicht." Für ihn müssen die Zahlen stimmen. Auch die Einfachheit und Schönheit der Formeln lässt er gelten.
Im Frühjahr 1926 schafft Max Born die Wirklichkeit ab, indem er die Wellen umdeutet, er „versteht sie nicht mehr als Teilchen selbst, sondern als deren Wahrscheinlichkeiten. Wo die Welle höher schwappt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, das Teilchen anzutreffen. Wo sie schwach ist, ist es weniger wahrscheinlich, das Teilchen zu finden …Früher gab es die Wirklichkeit, dann berechneten Physiker die Wahrscheinlichkeit. Nun kommt zuerst die Wahrscheinlichkeit. Die Wirklichkeit ergibt sich daraus.“
Bereits ein Jahr später wird die Welt unscharf. “Man kann nur mit einem von zwei Augen in die Atome schauen: mit dem Ortsauge oder mit dem Geschwindigkeitsauge. Wenn man aber beide Augen gleichzeitig öffnet, sieht man unscharf", erkennt Heisenberg.
Auch Paul Dirac interessiert sich für das menschliche Auge, was ihn zur Dirac-Gleichung führt, die nicht nur erklärt, warum Elektronen spin(n)en, also halbe Drehungen ausführen, sondern auch zeigt, dass sie ein entgegengesetzt geladenes Spiegelbild haben. "Dirac ist auf Antimaterie gestoßen …"
"Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort ... Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist", heißt es im ersten und dritten Vers des ersten Kapitels im Johannesevangelium.
Bei Bohr wird daraus, "dass weder den Phänomenen noch dem Beobachtungsmittel eine selbständige physikalische Realität im gewöhnlichen Sinne zugeschrieben werden kann." Ohne Beobachter keine Wirklichkeit, ist Bohrs einfache Formel, der sich die jungen Physiker in Brüssel 1930 anschließen.
Von Arthur I. Miller gibt es ein Buch mit dem Titel "137 - C. G. Jung, Wolfgang Pauli und die Suche nach der kosmischen Zahl". In der Physik schreibt die Zahl als "Feinstrukturkonstante" Geschichte. Für den Psychoanalytiker ist die 137 die Kabbala קבלה, nach den Zahlenwerten der hebräischen Buchstaben. Hürter erwähnt nicht, dass das häufigste Sterbealter in der Bibel 137 Jahre ist und auch nicht, dass Chlorophyll 137 Atome hat. Pauli starb in einem Krankenhauszimmer mit der Zimmernummer 137, so der Autor und wusste auch, dass dies sein Todeszimmer sein würde.
Einstein wendet sich dem choreographierten Verhalten der Teilchen zu und glaubt, dass deren identische Eigenschaften bereits feststanden, bevor sie beobachtet wurden. "Sie (die Theorie der Quantenmechanik) gibt kein scharfes Bild einer unscharfen Wirklichkeit, wie Bohr und Heisenberg behaupten, sondern ein unscharfes Bild einer scharfen Wirklichkeit."
Das EPR-Paradoxon, benannt nach den Physikern Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen, fand erst am Ende der 90iger Jahre des letzten Jahrtausends mit dem GHZ- Experiment eine Auflösung. Daniel Greenberger, Michael Horne und Anton Zeilinger gelang es, die Nichtexistenz versteckter Variablen nachzuweisen. Die Eigenschaften der verschränkten Teilchen werden also wirklich erst bei der Messung festgelegt. Was Einstein noch als „spukhafte Fernwirkung“ belächelte, heißt heute Quantenteleportation, die mindestens 10 000 Mal schneller als das Licht ist.
Davon schreibt Hürter nichts, sondern widmet sich im letzten Teil des Buches noch einmal ausführlich den dunklen Jahren der Physik. Es geht um die Kernspaltung, erstmals durch Otto Hahn realisiert. Weil Einstein die Atombombe der Deutschen fürchtete, drängte er Roosevelt dazu, den Nationalsozialisten zuvorzukommen. Jahre später nennt er seine Briefe an den Präsidenten, "den einen großen Fehler meines Lebens."
Nur wenige hundert Meter trennen mich vom Haus Erlenkamp, wo Präsident Harry S. Truman am 25. Juli 1945 den Befehl zum Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erteilte. 230.000 Menschen starben bis zum Ende des Jahres an den Folgen.
"Das ist die dunkle Seite der Geschichte, die von den Rissen in Marie Curies Fingerkuppen zur Atombombe von Hiroshima führt." Tobias Hürter schließt den Kreis im Epilog.
Ein umfangreicher Anhang zeigt noch einmal, wie tief der Philosoph und Mathematiker in das Zeitalter der Unschärfe eingestiegen ist. Ich danke ihm herzlich und verneige mich vor ihm.
Vera Seidl