Cover des Buches Aufstieg und Fall großer Mächte (ISBN: 9783423280358)
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Rezension zu Aufstieg und Fall großer Mächte von Tom Rachman

Zuhause ist für manche nur ein Wort

von franzzi vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Ein unfassbar kluges wie unfassbar erschütterndes Buch.Geschichte von Freundschaft&Abhängigkeit in der persönlichen wie der politischen Welt

Rezension

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franzzivor 9 Jahren
Tooly kennt die Welt von klein auf. Jedes Jahr bewohnt sie ein anderes Land, reist mit Paul umher, dessen Job ihn von US-amerikanischer Botschaft zu US-amerikanischer Botschaft führt: Australien, Thailand, Punktpunktpunkt. Nur in Toolys passgegebene Heimat, die USA, führt sie die Dauerdienstreise nie. Tooly kommt in den immer neuen Schulen eher schlecht als recht zurecht, ihre Freunde sind Bücher, Charles Dickens reist mit ihr überall hin. Und wenn Tooly überhaupt ein Zuhause hat, dann wohl in der Welt der Literatur. Tooly ist die Hauptfigur, die Tom Rachman in seinem neuen Roman "Aufstieg und Fall großer Mächte" in den Mittelpunkt stellt.

Tooly ist von Kapitel zu Kapitel unterschiedlich alt: 10, 21, 33. Rachman wirft Bruchstücke aus: von einem Vorgestern in Thailand, einem Gestern in New York und einem Heute in Wales. Sie wird jeweils von anderen Personen begleitet, aber wie das in Romanen so ist, treten im Heute letztlich alle Figuren der Vergangenheit wieder auf, um das Rätsel um Toolys Wurzellosigkeit und um den Verlust ihrer quasi-familiären Bindungen zu einer Handvoll anderer Wurzelloser aufzulösen.

Denn die meiste Zeit lebt sie mit einem ungewöhnlichen Haufen: mit Humphrey (einem alten "nicht-praktizierender Marxisten", der am liebsten mit den Phliosophen zwischen den Buchdeckeln redet, warmherzig und mit niedlichem russischem Akzent), Sarah (eine Diva, die mit ihrem Alter ebenso wenig zurecht kommt wie mit echter Nähe und die ihren Träumen, Trugbildern und Männern mal hierhin und mal dorthin folgt) und Venn (der große Zauberer, der wegen seiner Geschäfte kaum greifbar ist und doch allen Aufmerksamkeit, Geld und Aufgaben schenkt und der die Gruppe zusammenhält, weil die anderen ihn bewundern).

Rachman erzählt das mit einer angenehmen Langsamkeit. Er zeigt Toolys Frustration auf der Suche nach der verschütteten Wahrheit, indem er den Leser mit ellenlangen wie ergebnislosen Dialogen frustriert. Er wechselt die Zeitebenen, wenn es gerade spannend wird, er streut Irrwege und Andeutungen, sodass der Leser sich seiner ständigen Schlussfolgerungen nie ganz sicher sein kann - und doch löst er alles absolut konsequent und schlüssig auf.

Und Rachman schafft es, neben dem offensichtlichen Plot unzählige andere Interpretationsmöglichkeiten des Titels aufzutun. Da geht es um Weltpolitik im Gestern, im Heute und in Szenarien für morgen. Da geht es um die Wandlung des Menschen, um alte und neue Mächte, um die ewige Macht des Buches und die sich stetig nach oben und unten schubsende Macht des Konsums. Da geht es um die Macht, die ein einzelner über Menschen hat, die Macht der Gefühle, die Macht der Wahrheit und die Macht, die gesellschaftliche Erwartungen wiederum auf den Einzelnen haben.

Und in letzter Konsequenz lassen sich die beiden Pole, zwischen denen die 10- bis 21-jährige Tooly herumtreibt: der warmherzige wie vereinsamte Humph und der ungreifbare, begehrte und erfolgreiche Venn, als Metaphern für die beiden führenden Wirtschaftsideologien des Kalten Krieges lesen. Und Rachman wäre nicht Rachman, wenn er nicht auch hier Denkanreger, Irrwege und Scheinwahrheiten verteilen und am Ende mit einem Paukenschlag den Leser verblüffen würde.

Jeder Leser kann sich in den ausgeworfenen Möglichkeiten austoben, mitdenken, weiterdenken, wegdenken, ganz wie es ihm gefällt. Dieser Roman ist keine Lebensgeschichte, er ist ein Spielplatz für Gedanken, er ist ein Glücksfall.

Wie schon in "Die Unperfekten" hält Rachman bei allem Witz auch die Kälte aus, bleibt schonungslos, umschifft jeden Kitsch und erzählt dabei mit einer scheinbaren Leichtigkeit und Kraft, dass es eine Freude ist, Tooly über jeden Umweg zu begleiten. Denn sie ist, wie eine ihrer Freunde aus liebgewonnenen Romanen: Man möchte immer wieder zurückblättern, um ein bisschen länger bei ihr sein und mit ihr plaudern zu können.

«"Hast Du heute schon mit jemandem geredet?"
"Mit viele Leute."
"Mit wem?"
"Mit John Stuart Mill zum Beispiel. Und mit Jean-Jacques Rousseau. Hast Du vielleicht schon von gehört?"
"Tote Philosophen zählen nicht."»
(S. 160 - mehr davon in meiner Lesechronik: http://www.lovelybooks.de/bibliothek/franzzi/lesestatus/1113150332/ )
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