Rezension zu "Deutschland 2050" von Toralf Staud
Vorhin habe ich die Sachen auf unserem Balkon angesichts der Gewitterwarnung gesichert: orkanartigen Böen bis 110 km/h und Niederschlagsmengen bis 30 Liter pro Stunde. Diesmal ging der Kelch zum Glück wieder an uns vorüber, aber die Bäume ächzten ganz schön in den Böen und aus einigen Gärten und von Balkonen hörte ich Scheppern und Klirren. Mittlerweile tönt das Martinshorn durchs Viertel. Ich bin jetzt Anfang 40 und ich kann mich noch erinnern, dass es so was in meiner Kindheit deutlich seltener gab. Gut, das ist eine gefühlte Wahrheit. Für Zahlen und gemessene Wahrheiten sowie Prognosen empfehle ich das Buch „Deutschland 2050“. Und wenn selbst ich schon die Unterschiede zu meiner Kindheit spüre, so wird das Leben 2050 erst recht nicht mehr so sein, wie wir es HEUTE kennen.
Es ist beileibe nicht das erste Buch, dass ich über die Erderhitzung gelesen habe. Ich hatte vermutlich sogar einen gewissen Overkill dabei, darum lag "Deutschland 2050" auch einige Zeit auf meinem SuB. Erschienen ist das Buch bereits 2021, aber es ist immer noch eine sehr lohnenswerte Lektüre. Für die Taschenbuchausgabe fügten die beiden Autoren im Februar 2023 ein weiteres Vorwort hinzu, das die ganz aktuellen Entwicklungen ergänzt. (Falls ihr die ältere Ausgabe habt oder diese in der Bibliothek ausleihen solltet, findet ihr das neue Vorwort in der Leseprobe auf der Homepage von Kiepenheuer und Witsch).
Toralf Staud und Nick Reimer eröffnen uns in "Deutschland 2050" Prognosen für ganz unterschiedliche Bereiche, wie die Klimakrise das Leben in diesem Land verändern wird. Eigentlich ist das Buch eine lange, lebendige Reportage, die uns auf eine Reise durch ganz Deutschland nimmt (und manchmal auch darüberhinaus). Wir treffen Forscher*innen, die immer anschaulich, oftmals nüchtern, manchmal auch tiefbewegt, von ihren Erkenntnissen berichten. Vor meinem inneren Auge konnte ich so z.B. den Hochleistungsrechner des Deutschen Wetterdienstes sehen. Der steht übrigens in einem Hochsicherheitsbereich, denn dessen Daten sind nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die Landwirtschaft von immenser Bedeutung. Wir vergessen irgendwie viel zu häufig, wie sehr wir von den Naturgewalten und dem Klima abhängig sind. Und neben dem Wetter berechnet dieser Großrechner Klimamodelle.
Zusätzlich zu den Forschungsinstituten und Universitäten reisen wir mit dem Buch an Orte, die schon zuvor massiv von den Auswirkungen von extremen Wetterereignissen oder anderen Folgen der Klimakrise massiv betroffen waren. Diese Beschreibungen kombinieren Staud und Reimer mit Prognosen, um wie viel häufiger oder schlimmer solche Ereignisse werden. Das Buch führt uns also ganz hautnah an die Katastrophen heran.
Obwohl ich schon einiges zum Thema gelesen habe, viele Schlagwörter wie Klimakrise als Gesundheitskrise kenne und weiß, dass die Klimakrise ganz komplexe und zahlreiche Auswirkungen haben wird, erschreckte mich bei dieser Lektüre doch immer wieder, in wie viele Bereiche die Erderhitzung Einfluss nehmen wird. Da greife ich einfach mal ganz willkürlich das Thema Feuerwehr heraus: Die allermeisten Feuerwehrleute arbeiten ehrenamtlich. Wenn Einsatzhäufigkeit und -dauer zunimmt – was durch die Klimakrise zwangsläufig geschehen wird – werden viele Arbeitgebenden dieses ehrenamtliche Engagement nicht mehr mittragen können (oder wollen). Und durch den demographische Wandel gibt es immer weniger junge Leute, die zu den Feuerwehren gehen können. Wer wird dann also Menschen vor Fluten wie an der Ahr oder Wildfeuern wie in Brandenburg retten? Wie kann die Feuerwehr überhaupt noch ausrücken, wenn deren Gerätehaus unter Wasser steht?
Viele glauben leider wohl immer noch, das würde sie alles selbst nicht sonderlich tangieren. „Deutschland 2050“ zeigt auf, wie viele Lebensbereiche der Klimawandel heute schon betrifft. Neben der Hilfe im Katastrophenfall ist die Gesundheit ein weiterer Bereich, der sehr eindringlich dargestellt wird.
„»Während einer Hitzewelle zu sterben, ist wie ein Horrorfilm mit 27 schlechten Enden, von denen man sich eines aussuchen kann«, kommentierte Hauptautor Camilo Mora von der University of Hawaii.“
Alles keine rosigen Aussichten, oder? Das gilt auch für die Themen Dürren und Flutkatastrophen, Landwirtschaft, Verkehrsplanung, Artensterben, Waldmanagement (und -sterben, ich muss es so hart sagen), Hitzeglocken über Städten, Küstenerosion, Stromversorgung, Tourismus, Wirtschaftsfolgen und die globale Sicherheit. Ja, all das und noch mehr wird durch die Erderhitzung ungemütlicher und unsicherer werden. Ich frage mich schon lange, warum die Menschen und die Politik nicht entschlossener für den Klimaschutz handeln – und auch für Klimaanpassung. Populismus, Relativierung und ein „Wird schon nicht so schlimm werden“ tragen das sicherlich ihren Teil dazu bei. Vielleicht müssen einfach noch mehr Menschen dieses Buch lesen, mit empathischem Blick, damit sie merken: Die Lage ist mehr als ernst.
Fazit: Das Buch eignet sich sowohl für Einsteiger*innen ins Thema, weil hier wirklich anschaulich die Komplexität des Themas erklärt wird. Und auch, wenn ihr einiges schon zum Thema wisst, gibt es hier viele anschauliche Beispiele. So können wir uns emotional hoffentlich besser vorbereiten. Bitte lesen! 5 von 5 Sternen.