Rezension zu "Gott spricht Jiddisch" von Tuvia Tenenbom
„Nu weiße Bescheid,“ sagte der rasende Reporter Horst Schlemmer immer. Und das denken wohl viele, nachdem sie Serien wie ‚Stiesl‘, ‚Un-Orthodox‘ und ‚Rough Diamonds‘, die türkische Produktion ‚Der Club‘ oder ‚Die Schweigers‘ gesehen haben. Jetzt kommt allerdings der Inside Report von Tuvia Tenenbom dazu, der Vorurteile weder bestätigen noch widerlegen möchte. Der umtriebige Theatermann, der gerne wochenlang auf den Bestsellerlisten von ‚Der Spiegel‘ verweilt, in den USA, Israel und Deutschland ein gefeierter Autor ist, hat sich mit seinen eigenen Wurzeln beschäftigt. Er recherchierte und schrieb als investigativer Journalist und Reporter über Antisemitismus in verschiedenen Ländern und stets berichtete er in seinen Büchern über diverse Spielarten des Judenhasses – ein hochaktuelles Thema. Sein neues Buch geht eher über Semitismus, könnte man sagen, über das jüdische Sein im Lande seines Ursprungs.
Back to the roots - die postmodernen Erzählungen der Chassidim 2.0
Auch Tuvia sollte einst Rabbiner in der chassidischen Community werden. Es war ihm quasi in die Wiege gelegt worden. Seine Vorfahren stammen aus Polen/Ukraine und hatten einen eigenen Hof, so werden die selbsternannten Amtssitze der Wunderabbis bis heute genannt. Und davon gibt es eine Vielzahl von sich zum Teil widerstreitenden Traditionen. Die chassidischen und heredischen Rabbis halten bis heute buchstäblich Hof mit vielen tausend Anhängern. Tuvia meint nun, dass diese Rabbis ihren Anhängern oft fast wichtiger erscheinen als ‚Gott‘ selbst. Der Name Gottes besteht übrigens aus vier hebräischen Buchstaben (Tetragramm) in den heiligen Texten und ihn umgibt ein Geheimnis. Er wird im (orthodoxen) Judentum nicht ausgesprochen, sondern die Gläubigen sprechen schlicht von ‚Adonai‘ (Herr) oder ‚Ha Shem‘, was zu Deutsch einfach nur „Der Name“ heißt. Das tun sie immer, wenn sie im Gebet sind, oder über Gott sprechen. Es sind abgeschlossene Welten, in Vierteln, zu denen kaum jemand Zugang findet, ähnlich wie bei den Amish und Hutterern in den USA. Übrigens ist bei ganz Frommen in Israel Hebräisch als Alltagssprache verpönt, denn die heilige Sprache darf nicht im Alltag profanisiert werden. Also sprechen alle, die es von klein auf kennen, lieber Jiddisch miteinander …
Nur Tuvia Tenenbom (TT) hat Zugang zu diesen Communities, weil er Jiddisch spricht und in diesen Gemeinschaften bis zu seiner Jugend in Bnei Brak in Tel Aviv und Mea Shearim in Jerusalem lebte. Obwohl er sich äußerlich völlig gelöst hat, als junger Mann in die USA ging, dort studierte und diverse Universitätsabschlüsse machte, u.a. in Bildender Kunst, Dramaturgie und Geisteswissenschaften sowie Gründer und Leiter von The Jewish Theater of New York geworden ist, blieb er innerlich ein Chassid, wie er gerne sagt. TT und seine Ehefrau sind polyglott, die Sprachen Hebräisch, Arabisch, Jiddisch, Englisch, Deutsch etc. sind ihnen Schlüssel zum Verständnis anderer Geisteswelten.
Wer Martin Buber „Die Erzählungen der Chassidim“ gelesen und verstanden hat, weiß worum es geht. Die verschiedenen Höfe der Chassidim haben eigene Traditionen herausgebildet in der Bukowina und Galizien, den heute z.T. im Krieg umkämpften Gebieten. Chassidismus ist eben die Popularisierung der Kabbala, die als mystische Geheimlehre aus dem 13. Jahrhundert in der Provence durch Isaak den Blinden entstand und im 17. Und 18. Jahrhundert in Osteuropa neu erstand. Diese charismatische Bewegung im Judentum setzt ganz auf die permanente Gegenwart des Allmächtigen in der Welt der schwarzgewandeten Gemeinde; ehedem in Gebieten des heutigen Polen und Ukraine, heut in London, NYC, Williamsburg, Mea Shearim und Bnei Brak, und z.T. auch in Mumbay, Berlin und Hamburg. Es wird bei ihnen viel gesungen, gefeiert, gegessen, getrunken, gebetet und auch geliebt.
Wenige wissen, dass es 1648 während des sogenannten Kosakenaufstandes von Bogdan Chmielnicki im damaligen Kampf um die ukrainische Unabhängigkeit, teils auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, zu furchtbaren Pogromen gegen jüdische Familien und Einzelpersonen in über 600 Städten der gesamten Region im Krieg gegen Polen-Litauen gekommen war. Erst im Laufe von 100 Jahren danach hat sich die jüdische Erweckungsbewegung der Chassiden (die Frommen) angesichts der Gräber der Ermordeten als eine lebendige und damals sehr zeitnahe Antwort formiert. Die Tradition hält an.
Gastfreundschaft im Angesicht der Frommen Jerusalems
Tuvia Tenenbom hat sich für seine Recherchen im Auftrag des Suhrkamp Verlages mit seiner Frau Isi in ein Hotel an der unsichtbaren Stadtgrenze zu Mea Shearim (Hundert Tore) nahezu über ein Jahr eingemietet. Von hier aus startet der extrovertierte Mann zu Exkursionen in seine nähere Umgebung. Er trifft und interviewt alle möglichen Personen und entwirft ein kaleidoskopartiges Bild des ehemals in Osteuropa ansässigen chassidischen Judentums mit seinen vielen Spielarten. In Europa wurden diese Gemeinschaften ausgelöscht durch deutsche Militärs im zweiten Weltkrieg angesichts der von den NS perfide ins Werk gesetzten Ermordung des europäischen Judentums –Terror und Massenmord erreichten sogar auch die jüdischen Gemeinden Griechenlands. Auch TT’s Vorfahren, allesamt fromme Chassiden, sind ermordet worden. Er erwähnt dieses nur einmal im Buch und trägt es wohl wie eine nicht heilende, innere Wunde verborgen mit sich herum. Er lässt diese versunkene, und den meisten unbekannte Welt, wiederauferstehen durch seine vielen Besuche und Gespräche im Viertel. Von überall wird er eingeladen, die Leut kennen ihn von Angesicht und sprechen TT auf der Straße an. Eine Begegnung ergibt die andere, Gottesdienste, Schabbatfeiern, Beerdigungen und selbst die Gerichtsprozesse verfeindeter jüdischer Gruppen, geheime Treffen, nichts lässt der Autor aus.
Ein arabischer Taxifahrer berichtet, dass er den frommen Frauen als Mann für alle Fälle gilt und den Chassiden kuriose Dienstleitungen erbringen soll, die weit über einfache Taxifahrten hinausgehen…
Viele, viele unbekannte Seiten einer meschuggenen Mischpoke
Dieses Buch hat viele, viele Seiten und ist voller Humor. Die Lesenden werden mitgerissen und bekommen einen Einblick in die Polyphonie und Vielfältigkeit des Judentums, wie es sie erzählerisch seit Martin Buber so nicht mehr gegeben hat. Es liest sich wie eine sagenhafte Einführung in jüdische Denk- und Lebensweisen für Anfänger, wie für Fortgeschrittene. Selbst vor abstrusen Situationen und Verhältnissen macht TT nicht halt. Er thematisiert öffentliche Prügel, auch Missbrauch – spirituellen und körperlichen, doch das ist nicht sein Fokus. Überwiegen tut die Freude und die manchmal absonderlich anmutende Eigenwilligkeit der Menschen, die er trifft. So gibt es Ultraorthodoxe in Jerusalem, die sind Antizionisten und pinseln „Tod den Zionisten“ an die Wände. Was soll das denn? Sie glauben, dass allein der Messias ein Gemeinwesen ‚Israel‘ am Ende der Zeiten errichten würde und der jetzige Staat ein Fake ist. Manchmal gibt es bei Massenkeilereien zwischen verfeindeten Gruppen auch mächtig auf die Schnauze. Man(n) sieht sich bei Gericht oder? So oder so …
Musik, Festessen, heilige Texte und Kindheitserinnerungen zelebrieren
Am schönsten wird es, wenn TT über Festivitäten und das gute Essen schwärmt. Allein die Überschriften der Kapitel machen neugierig, z.B. „Wenn Gott einen Juden liebt, dann findet er auch einen Parkplatz für ihn“. Da heißt es über den begnadeten populären chassidischen Sänger Motti Steinmetz: „Er ist mit einer großartigen Stimme und hoher emotionaler Intelligenz gesegnet. Die Lieder des etwa 30 Jahre alten Sängers im Körper eines 17-Jährigen sind oft in Geschäften und Wohnungen zu hören.“ (S. 206) Das Tonstudio liegt in der Gegend in Tel Aviv wo TT aufwuchs. Dort wuchsen früher Orangenhaine, der Ort war ruhig und hatte ein fast ländliches Flair mitten Jerusalem.
Es sind einige der schönsten und eindrücklichsten Passagen in diesem Kapitel zu finden. Sie erinnern an literarische Texte geschrieben von Mendele Moicher Sforim: „Ich betrachte meine Umgebung. Ich kann meinen Vater und meine Mutter über diese Straßen gehen sehn. Beide sind nun schon lange tot, aber ich sehe sie vor mir, als würden sie noch leben, … hier ist Chaim Kaniewsky, der komische Kauz, und hier Chaim Grainemann, der mit hoch erhobenem Kopf voranstolziert, während ihm seine 16 Kinder folgen: sie wirken eher wie eine Kongregation als wie eine Familie. Hier ist Rabbi Gedaliah Nadel, ein genialer Rabbiner, der sein Geld mit dem Verkauf von Eiern und weiß Gott was verdient hat. Hier ist Jaakov Arje Alter, der Gerrer, der künftige Rebbe des chassidischen Hofs von Ger, der so schnell geht, als würde er von Dämonen gejagt, mit herunterhängendem Kopf und seinem seltsam baumelnden Mantel. Hier ist der Deutsche, Herr Borer, der Hühner in seinem Hinterhof hielt. Er starb am Coronavirus, wie ich hörte.“ (S. 207)
Auf kafkaeske und leicht mystische Weise schildert TT den Alltag. Kindliche Erinnerung und das Straßenbild des Alltags, dass sich dem erwachsenen TT jetzt aktuell bietet, vermischen sich. Es ist das persönlichste und beste Werk, dass TT bisher vorgelegt hat, es entspricht einer Selbstoffenbarung – im Herzen ein Chassid– im Geist ist er freier und milder als jemals zuvor. Und doch kommt der schreibende amerikanisch-israelische Autor auch immer wieder auf tagespolitische Themen und zitiert auch aus heiligen Gebetstexten der Hebräer:
TT signiert Bücher nach Lesung
mit Diskussion zu „Gott spricht Jiddisch“
am Happy Weihnukka Festival im
Rolf Liebermann Saal (NDR)
am Abend des 16.12.2023
Scharen von Engeln oben
Mit deinem Volk Israel unten
Werden dich krönen, Herr unser Gott
Dich dreimal gemeinsam heiligen
Wie von Deinen Propheten verkündet
Und sie rufen zueinander und sagen:
Heilig, Heilig, Heilig
TT bezeichnet Greta Thunberg als Messias der neuen intellektuellen Puritaner in den USA zusammen mit Cancel Culture und einer fortschreitenden Asexualisierung durch Gendern in den Gesellschaften im Westen (Seite 446). Dann zieht er einen Vergleich zwischen Chabad-Anhängern und Christen: „Die Christen haben Jesus, sie [Chabadniks] haben [ihren Rabbi] Schneerson und alle sind glücklich.“ Trotz aller Verrücktheit - Tuvias Figuren, seine jiddischen Leit aus Mea Sharim und Bnei Brak sind liebenswert. Ein lesenswertes Buch mit vielen ungeahnten Einblicken.