Und dann übers Meer zu einem offenen, strahlenden und fantastischen Leben. Zehnmal besser als das, was er sich demütig als unerreichbares Fernziel ausgemalt hatte. Freiheit. Offenheit. Wärme. Schönheit. Und das Wort, das man vorsichtig auf der Zunge wägt, weil man Angst hat, es zu verlieren, das aber in einem frohlockt wie ein Lobgesang: Glück.
Auf den abgelegenen Örar-Inseln ist die Stelle des Pfarrers vakant und nicht leicht zu besetzen. Denn wer erst einmal sein Pastoralexamen in der Tasche hat, zieht von dort weg aufs Festland, in eine bessere Anstellung. Anders der junge, aufgeschlossene Pastorsanwärter Petter Kummel, der nun die Stelle antritt. Er und seine Familie fühlen sich in der kargen Umgebung und bei den rauhen, aber herzlichen Leuten, deren harte Schale zu knacken nicht ganz leicht ist, zunehmend wohl. Sie beschließen, zu bleiben.
Es ist ein drei Jahre überspannendes Epos, ein faszinierender Einblick in das Nachkriegsleben auf einer finnischen Schäreninsel, das mit großer Ruhe, fast wie eine locker erzählte Fernsehdokumentation, das Leben der Pfarrerfamilie und der Örar-Insulaner erzählt. Man weiß eine ganze Weile nicht, worauf das hinausläuft. Kommt da noch etwas Dramatisches, oder ist es einfach so etwas wie Bullerbü für Erwachsene? Vielleicht wäre das gar nicht so schlimm. Ich mag das eigentlich, dass die anerzogene Hochspannungs-Erwartungshaltung durchbrochen wird, dass das Damoklesschwert, das über der rauhen Inselidylle zu hängen scheint, gar nicht zum Einsatz kommt. Schön wär's...
Ich glaube nicht, dass es besonderen Spaß macht, das Buch zu lesen, wenn man mit der Kirche nichts am Hut hat. Die Tätigkeit des Pfarrers wird doch recht gründlich beschrieben, und seine theologischen Überlegungen fließen ganz natürlich in die Geschichte ein. Das verleiht ihr Glaubwürdigkeit, aber das schränkt natürlich auch den Kreis der Leser ein wenig ein. Dabei ist es wirklich lesenswert, was die Autorin da an zwischenmenschlichen Entwicklungen auslotet. Wie sie ganz allmählich in dieser so oft vorenthaltenen wörtlichen Rede dennoch immer tiefer und überraschender die Gedankengänge des Pastors bloßlegt. Und die heimlichen Helden der Geschichte sind, neben dem sympathischen Pfarrer, immer mehr auch die Pfarrerskinder, die einen ganz unvermutet, dort, wo es überhaupt nichts zu lachen gibt, zum Schmunzeln bringen. So liebevoll und weise denkt sich Ulla-Lena Lundberg in die einzelnen Charaktere hinein, dass sogar das barsche und völlig unpädagogische Auftreten der Pfarrersfrau Mona verzeihlich wird.
Der ganz große Verdienst der Autorin ist, dass sie sich auf eine intensive Weise in die inneren Denkweisen und Gefühlswindungen der Figuren hineinschreibt, wie ich es noch nie in einem Roman gelesen habe. Und das trotz der anfangs so distanziert, ja fast etwas fahrig wirkenden Schreibweise. Während der Pfarrer und seine Frau stets nur Gegenstand einer Gegenwartserzählung in der dritten Person sind, wird die nur am Rande vorkommende Figur des Postboten Anton immer wieder als Ich-Erzähler wie ein Intermezzo eingeschoben. In diesen kursiv gedruckten Postboten-Reflektionen werden die Naturgewalten lebendig, ja zu Geistern, weicht die Distanz des unbeteiligten Erzählers einer Vertrautheit, die gleichzeitig Gefahr bedeutet. Aber was sind diese Naturerscheinungen wirklich, von denen Anton erzählt und die er "Geister" nennt? Mary Baker Eddy hat einmal gesagt: "Wenn die Sterblichen korrektere Anschauungen über Gott und den Menschen erlangen, werden zahllose Dinge der Schöpfung sichtbar werden, die vorher unsichtbar waren." Doch hier bleibt das Buch leider in der alten mythischen Schicksalsdenke verhaftet, die unerklärliche Phänomene in Geister einteilt und personifiziert. So kommt es wie es kommen muss, aber da verrate ich schon wieder zu viel. Nur soviel: nicht umsonst heißt das Buch "Eis". Solchen Büchern darf man nicht trauen.