Rezension zu "Der erinnerte Soldat" von Anjet Daanje
Anjet Daanje erzählt in diesem Roman die Geschichte eines Soldaten, der im Ersten Weltkrieg infolge der traumatischen Erlebnisse sein Gedächtnis verloren hat. Man nennt ihn Noen Merckem. Er lebt 1922 wie viele andere, die an einer PTBS leiden, in einem Heim für psychisch kranke Soldaten. Man versucht mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln, wie eiskalte Güsse, Elektroschocks und Gabe von mehr oder weniger erprobten Medikamenten seine Amnesie zu heilen. Zusätzlich wird mittels Zeitungsannoncen und Rot-Kreuz-Anfragen nach möglichen Ehefrauen und anderen Angehörigen gesucht. Den meisten Versuchen, die vier Jahre nach Kriegsende bleibt der Erfolg versagt. Umso überraschender ist es, als Julienne Coppens, eine Frau aus Kortrijk, erscheint und in Noen ihren Ehemann, den Fotografen Amand Coppens erkennt, und ihn gegen den ausdrücklichen ärztlichen Rat mit nach Hause nimmt.
Was dann folgt, ist eine fesselnde Geschichte. Denn Julienne erzählt zunächst sehr glaubhaft, wie sie Amand kennengelernt, geheiratet und die beiden Kinder bekommen hat. Doch das ältere Kind Gust begegnet Amand/Noen sehr reserviert, zumal Amand nun einige Hausarbeiten verrichtet, die bisher Gust erledigt hat. Es scheint, dass er eifersüchtig ist. Die siebenjährige Roos, die vermutlich bei einem der letzten Heimaturlaubd gezeugt worden ist, hat überhaupt keine Vorstellung von einem Vater.
Je mehr Amand versucht, die Gegenwart und Juliennes Erzählungen von seiner Vergangenheit, in Übereinstimmung zu bringen, desto häufiger suchen ihn Albträume heim. Hin und her gerissen zwischen Schlafmangel und einem vagen Gefühl, von Julienne in ein geborgtes Leben gedrängt zu werden, verrichtet er Arbeiten, die er nie zuvor ausgeführt hat. Er fertigt Tischlerarbeiten an oder repariert das Dach, Fähigkeiten ihres Mannes, die für Julienne völlig neu ist. Dafür hat er das Entwickeln von Filmen verlernt, obwohl er angeblich Fotograf ist.
Spätestens hier keimt bei den Lesern ein leiser Verdacht auf. Ist Noen gar nicht Amand? Nur, wer ist er dann?
Meine Meinung:
Ich habe diesen Roman sehr gerne gelesen. Üblicherweise beschäftigen sich historische Roman des Ersten Weltkrieges nur wenig mit den traumatisierten Soldaten egal welcher Nationalität. Dieser hier entwickelt eine Sogwirkung, die einen nicht mehr loslässt.
Die Charaktere sind ausgesprochen ausgefeilt angelegt. Da haben wir Julienne, die sich anfangs als fürsorgliche Gattin und Mutter präsentiert und sich später dann in eine andere Richtung entwickelt. Noen/Amand wirkt zunächst hilflos, ist er doch aus seiner bekannten Umgebung, dem Heim, entrissen, um wieder ein „normales Leben“ zu führen. Doch was soll das sein? Ein wundersame Wiedererkennung seines früheren Lebens? Langsam, fast in Zeitlupe, bemerkt Noen/Amand, dass nicht alles, was er von Julienne erfährt, unbedingt so geschehen sein muss. Er wundert sich, dass es keine Verwandten mehr gibt, dass Juliennes Freundinnen neidisch auf die wiedergewonnen Zweisamkeit blicken. Vieles, was zwischen dem Ehepaar steht, wird nur angedeutet und nicht angesprochen. Beide sind in gewisser Weise sprachlos. Noen/Amand weiß nicht wirklich, was er glauben soll, als er Julienne bei einem Versprecher ertappt.
Eine für mich skurrile Entwicklung sind die Fotos, die Julienne von Amand in Uniform macht und nach sorgfältiger Retusche, in dem sie Amand das Gesicht von gefallenen oder vermissten Soldaten gibt, an deren Eltern, Ehefrauen oder Verlobte verkauft. Damit und mit Fotos von den Schlachtfeldern, die sie gemeinsam bereisen, verdienen sie ihr Geld.
Dieser Roman ist keine herkömmliche Liebesgeschichte. Dazu ist mir Julienne zu berechnend und manipulativ.
Autorin Anjet Daatje nimmt uns auf eine Reise in die Psyche eines Mannes mit, der auf Grund der Kriegserlebnisse neben seiner Erinnerung auch seiner Identität beraubt worden ist. Es ist über lange Strecken unklar, ob die Erinnerungen, die Julienne Noen/Amand suggeriert, ihre eigenen, jene von ihrem Mann oder eigentlich gar keine Erinnerungen sind.
Jeder von uns kennt das bestimmt, dass er sich an ein oder mehrere Ereignisse seine Kindheit nur deshalb „erinnert“, weil er es von den Eltern oder Großeltern mehrfach erzählt bekommen hat.
Fazit:
Diesem aufwühlenden Roman über „echte“ und konstruierte Erinnerungen, über "richtige" und "falsche" Wahrheiten gebe ich gerne 5 Sterne und eine Leseempfehlung.