Rezension zu "Goldener Boden" von Ulrike Dotzer
»Selbst das Meer kann nicht alles schlucken« – wie soll es dann der Mensch vermögen? Um den Themenkomplex »Krieg – Flucht – Vertreibung« rankt sich Ulrike Dotzers Familiensaga über drei Generationen, eine Geschichte, in der Wunden und Narben schwer verheilen, in der viel Ungesagtes und Unbewältigtes schwelt, in der eigene Berufswünsche und privates Glück dem Wohl der Familie geopfert werden, was allerdings durch Fleiß und Umtriebigkeit, Geschick und Geschäftssinn – und mit einer Prise Lebenslust, Ess- und Feierlaune –kompensiert wird. Gefühle sind »Nebengleise«; nicht selten stören sie Beruf und Karriere. Mit Elan und Ehrgeiz erlernte einst Gustav Hirsch das Handwerk eines Friseurs, brachte wertvolle Einsichten und die Tomatensorte »Ochsenherz« aus New York zurück nach Hinterpommern.Als 19-Jähriger hatte er wie viele andere deutsche Auswanderer Ende des 19. Jahrhunderts sein Glück in der Neuen Welt versuchen und nebenbei den wilhelminischen Rekrutierungsbehörden entkommen wollen. Wegen des frühen Todes seiner beiden älteren Brüder sieht er sich verpflichtet, zu seiner verwitweten, mittellos gewordenen Mutter nach Stolp/Słupsk zurückzukehren. Eine weise Entscheidung, wie sich herausstellen wird. Seine Tochter Clara wird ihren vier Töchtern Rosa, Mathilda, Ursel und Sofie viele Jahre später mit Verve und Überzeugung das Erfolgsrezept ihres Vaters vortragen: »Merkt euch, eins gilt immer: Handwerk hat goldenen Boden.« Dass Clara musische Talente und intellektuelle Begabungen ihrer Töchter geflissentlich ignoriert, liegt demzufolge auf der Hand. Obwohl die Familie ihre »geliebte Heimat«, also das »Pommernland«, nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen muss, bringt ihr das Friseurhandwerk Glück. »Vor der Flucht« und »nach der Flucht« – das ist die Zeitrechnung, in der die Familienmitglieder denken und die sie mit dem Schicksal Millionen anderer Flüchtlinge und Vertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg verbindet. Die Klammer zwischen diesen beiden »großen Kapiteln« ist die Erkenntnis, »dass Wohlstand etwas ist, das nicht nur verloren, sondern auch wiedererlangt werden kann«. Ulrike Dotzers Debütroman gelingt es, kollektive und individuelle Erinnerungen, Zeugnisse und Geschehnisse der Nachkriegszeit miteinander zu verflechten. Seit ihrer Jugend interessiert sich die in Kiel geborene Journalistin für das östliche Europa. Wie die Familie im Roman ist ihre 1945 aus Pommern nach Sachsen-Anhalt geflüchtet und zog drei Jahre später aus der Sowjetischen Besatzungszone weiter nach Schleswig-Holstein. Mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Familiengeschichte liefert die Autorin einen kostbaren Mosaikstein zur deutschen Nachkriegsgeschichte.
Ingeborg Szöllösi
Diese Rezension erschien im Magazin Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe März 2023. Mehr Informationen: www.kulturkorrespondenz.de