Rezension zu "Gesund genug" von Ursula Fricker
„Ein Leben lang hatte in dieser Familie nur eine Rolle gespielt, was Vater wollte. Wir haben nichts gewollt oder nicht mehr gewusst, was wir wollten, oder wir wussten, dass alles, was wir wollten, gar nicht infrage kam“ (S.21)
Rohkost-Ernährung, basische Ernährung, Ernährung nach Anthony Williams, pflanzenbasierte-vegane Vollwertkost, Zucker-, Gluten-, Mais- und Sojafrei, Lichtnahrung, „China Study“, „How not to Die“, „Willst du gesund sein, vergiß den Kochtopf“, „Krebszellen mögen keine Himbeeren“ … wer sich mit gesunder Ernährung befasst, der*dem werden diese sowie viele andere Begrifflichkeiten und Buchtitel rund um die vermeintlich „richtige Ernährungsweise“ vermutlich vertraut sein. Die Liste ließe sich endlos fortführen.
„Wann sind wir denn jetzt endlich mal gesund genug?“ (S.45) – diese Frage stellt sich auch Hanne als Kind oft. Denn in ihrer Familie im schweizerischen Schaffhausen begann das radikale Leben in Verboten, Entsagungen, Kasteiung, Totalität und sozialer Marginalisierung ebenfalls mit einem Buch, das ihr Vater Alwin Tobler eines Tages auf den Tisch legte und zur obersten Maxime der neuen Lebensführung erklärte: „SONNSEITIG LEBEN“ (*vermutlich angelehnt an die Schweizer Zeitschrift „vita sana sonnseitig leben“). Von da an wurden Fleisch, Wurst, Zucker, Kaffee, Zigarettenrauch, Auto- und Fabrikabgase, das Hören von Popmusik und Schlagern, das Ausdrücken von Freude, die Nahrungsaufnahme mit einem Messer, Fluoridtabletten, Spielzeug aus Plastik, das Einkaufen in Discountern und andersdenkende Menschen zu absolutem Gift erklärt.
Doch nun liegt dieser Mann, der sein ganzes Dasein und das seiner Familie rigoros darauf ausgerichtet hat, ein scheinbar gesundes Leben zu führen, im Sterben. Darmkrebs im Endstadium. Scheitern auf ganzer Linie, würde ein Teil von Hanne gern sagen. Doch sie verkneift es sich. Nach langer Zeit der Entfremdung von ihrer Familie, kehrt sie in ihr Elternhaus zurück. Am Sterbebett ihres Vaters werden Erinnerungen wach: an die streng reglementierte Kindheit und Jugend, den Auslandsaufenthalt als Mother´s Help bei der jüdischen Familie Walsh in London, das Beinahe-Abrutschen in eine religiöse Sekte, das Kennenlernen alternativer Lebenskonzepte, an den Versuch eines freien und selbstbestimmten Lebens in Berlin zur Nachwendezeit, an die fortdauernde Suche des „inneren Kindes“ nach Liebe und Geborgenheit. Das Lebensende des Vaters – für die mittlerweile erwachsene Hanne der Auftakt einer tiefen Innenschau und Reflexion. Wer war ihr Vater wirklich? Warum wurde er zu diesem tyrannischen und radikalen Familiendespot? Inwiefern hat das ambivalente Vater-Tochter-Verhältnis ihr eigenes Selbst und ihre Beziehungen zu anderen Menschen geprägt? Woher kommt ihre tiefe Bindungsangst? Kann sie verzeihen und verstehen?
Vor dem Hintergrund dieser Fragen, die teils nur fragmentarisch beantwortet werden (und vielleicht ist das mein einziger kleiner „Kritikpunkt“ – denn über die Biografie des Vaters hätte ich gern mehr erfahren), hat Ursula Fricker einen äußerst lesenswerten Roman geschrieben, über den ich weiterhin oft nachdenke. Ich mag mich in der literarischen und thematischen Eingrenzung kaum festlegen – eine Mischung aus nuanciertem Milieu- und Familienroman, ein Blick auf die schmerzliche Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau, ein leichter Hauch von „Coming-of-Age“, eine literarische Verbindung zwischen privaten und gesellschaftspolitischen Fragen der Gegenwart, ein Buch über Orthorexie und toxischen Gesundheitswahn, tradierte Rollenbilder, über die Gefahr von Absolutismus, Totalitarismus und Radikalisierung im übertragbaren Sinne auf weitere Ebenen, ein literarisches Psychogramm, eine Art Tagebuch über den Beginn einer „Heilung“ in verschiedenen Zeitperspektiven. Wertvoll auch der intertextuelle Hinweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit des sogenannten Pioniers der Vollwertkost – Werner Kollath. Auf den 235 Seiten dieses Romans mit dem wunderbaren Cover steckt so unglaublich viel drin, dass es schwer auf einen Nenner zu bringen ist. Große Leseempfehlung!