Rezension zu "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" von Fjodor M. Dostojewski
Wut, die – heftiger, unbeherrschter, durch Ärger o. Ä. hervorgerufener Gefühlsausbruch, der sich in Miene, Wort und Tat zeigt (Quelle: Duden)
Warum liest man in Zeiten, in denen es vor Wutbürgern nur so wimmelt, ein Buch, was genau aus der Sicht eines solchen Grantlers geschrieben ist? Nun, erstens heißt der Autor Fjodor Dostojewski (er wäre in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden) und zweitens konnte der Manesse-Verlag, der die „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ in einer wahrhaftigen Prachtausgabe seiner berühmten und bei Freunden des gepflegten Buchs überaus beliebten Bibliothek hinzugefügt hat, wohl bei der Planung nicht ahnen, dass die unsägliche Pandemie eine Masse an eben diesen Wutbürgern hervorspülen würde. Wenn jeder seine Wut verschriftlichen würde statt auf die Straße zu gehen, würde uns allen wohl viel erspart bleiben *g*.
So lässt der namenlose Protagonist kein gutes Haar an allem und jedem und nimmt sich davon nicht aus. Schon der erste Satz offenbart den Leserinnen und Lesern, mit wem wir hier zu tun haben:
„Ich bin ein kranker Mensch…Ich bin ein zorniger Mensch.“ (S. 9)
Oha, das kann ja heiter werden…Nein, wird es nicht. Im Gegenteil: manchmal weiß man vor lauter Selbstmitleid, Selbstzweifel etc. des Protagonisten gar nicht, ob man weiterlesen will oder nicht. Zumal die langen inneren Monologe, die dem tiefsten Untergrund der menschlichen Seele entspringen, der geneigten Leserschaft einiges an Geduld abverlangen. Ich will nicht sagen, dass man für manche Passage ein Psychologiestudium braucht, aber es kommt dem schon verdammt nahe. Nicht umsonst hat Friedrich Nietzsche das Werk für einen wahren „Geniestreich der Psychologie“ (S. 303) gehalten. Na denn – er muss es wissen ha ha ha.
Der zweite Teil der Aufzeichnungen mit der Überschrift „Angelegentlich nassen Schnees“ kommt dann (sprachlich) geringfügig lockerer daher. Doch Vorsicht: wir sind weit von der Leichtigkeit eines – ähm – banalen Textes entfernt. Hier erzählt uns der Protagonist Erlebnisse, die ihm widerfahren sind und an deren Groteske wohl selbst Kafka gescheitert wäre – und das will schon was heißen *g*.
Das plötzliche Ende der Aufzeichnungen lässt die geneigte Leserschaft dann „aufatmen“ á la „Hey, geschafft. Und jetzt? Welche Erkenntnis nehme ich mit aus dem Untergrund an die Oberfläche?“ Nun, das muss und kann jede*r nur für sich beantworten; mich haben sie in dem Sinne beschäftigt, dass ich mir sicher bin, das schmale Büchlein gelegentlich noch einmal in die Hand zu nehmen.
Die zahlreichen Anmerkungen (insgesamt 48) sind mal interessant, mal vernachlässigbar, helfen aber, dass ein oder andere besser einzuordnen. Auch das anschließende Nachwort der Übersetzerin Ursula Keller, die – so scheint mir – überragende Übersetzungsarbeit geleistet hat, hilft bei der Einordnung der „Aufzeichnungen…“ in das Gesamtwerk Dostojewski´s und zeigt, dass er wohl nicht umsonst zu den wichtigsten Autoren Russlands gehört (hat) und seine Werke eine erstaunliche Aktualität aufweisen, was mir gerade beim Schreiben dieser Zeilen eine dicke Gänsehaut beschert.
Insgesamt liest sich diese Rezension wahrscheinlich eher nach 5* denn nach 4* (und die Gestaltung als solches hat mindestens 6* verdient). Aber da es keine „Wohlfühllektüre“ war, kann ich mich nicht dazu durchringen, die Bestnote zu zücken. Aber tendenziell ist die Bewertung eher mehr an der 5 als an der 4.
Eine Leseempfehlung spreche ich somit natürlich aus, allerdings sollten die „Aufzeichnungen…“ nur gelesen werden, wenn man sich in einem stabilen Zustand befindet – sonst besteht aus meiner Sicht die Gefahr einer depressiven Verstimmung.
©kingofmusic