In dem sehr kurzen Dialog „Ion“ lässt Platon seinen Lehrer Sokrates mit dem Rhapsoden Ion ein Zwiegespräch über das Wesen der Literatur führen, was ihre Entstehung bewirkt und welches die Rahmenbedingungen ihrer Rezeption sind. Die zentrale Frage ist, ob Wissenschaft oder Kunst (i.S. von Könnerschaft) konstituierend für die Entstehung von Literatur sind oder etwas anderes. Wobei sich diese Frage logischerweise gleichermaßen auch für das Verstehen von Literatur stellt.
Sokrates Antwort: Es ist nicht Wissenschaft, es ist etwas anderes, etwas, das er Begeisterung oder Besessenheit durch die Götter bzw. die Musen nennt. Nun würden wir heutzutage sicher andere Begriffe statt „Götter“ oder „Musen“ benutzen, aber die Frage bleibt: Erfordert das Schreiben oder Lesen von Literatur Wissen(schaft)?
Oder etwas moderner gefragt: Können nur Polizisten und Verbrecher Krimis schreiben und können nur Polizisten und Verbrecher Krimis verstehen? Oder um es noch ein bisschen weiter auf die Spitze zu treiben: Entsteht unabänderlich ein hervorragender Krimi, wann immer ein Polizist oder ein Verbrecher ein solches Werk schreibt? Sokrates würde sagen: Nein. Denn nicht Wissen ist die Quelle der Literatur, sondern Be-Geist-erung.
Interessant wird es, wenn man das Beispiel Kriminalroman hinter sich lässt und andere Aspekte der Literatur in den Blick nimmt. Und insofern ist dieser kleine Dialog Platons auch eine Anfrage an den zeitgenössischen Literaturbetrieb und immer noch lesenswert.