Was bin ich froh, dieses einfach unglaubliche Monumentalwerk des Autors Uwe Johnson (1934 - 1984), eines der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur, endlich gelesen zu haben! Fast 2000 Seiten verteilt auf vier Bände, geschrieben in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren zwischen 1968 und 1983, sein Hauptwerk mithin. Dieses unstrittige Meisterwerk ist in den letzten Jahrzehnten derart umfangreich (auch mit Blick auf die dortige Verarbeitung autobiografischer Elemente aus dem komplizierten Leben des Autors) analysiert und -oftmals spekulativ- durchdrungen worden, dass ich mich hier ohne irgendwelche hehren Deutungsversuche lediglich auf mein eigenes Empfinden bei der Lektüre beschränken will.
Das Buch hat zwei große, im permanenten Wechsel laufende Handlungsstränge. Zum einen erzählt es die Geschichte des fiktiven Dorfes Jerichow an der mecklenburgischen Ostseeküste und seiner Bewohner in den Zeiten der sich anbahnenden Machtergreifung Hitlers, des zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden sowjetischen Besatzung bis hinein in den Aufbau und das "normale" Leben innerhalb der Staatsstrukturen der späteren DDR. Mannigfaltige Personen aller gesellschaftlichen Schattierungen und deren Lebenswege werden hier vorgestellt, verknüpft und bis ins Kleinste ausgebreitet, so dass der Leser sich im Laufe der Zeit schon fast selbst wie ein Bewohner mit genauen Ortskenntnissen fühlt. Johnson nutzt diese Plattform äußerst strategisch und ausgefeilt, um in einer Radikalität und Vehemenz die Unzulänglichkeit und Manipulierbarkeit, die inneren Abgründe des Menschen, aber auch seine gelegentliche innere Größe unter sich immer wieder ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu plakatieren bzw. anzuprangern, wie man es so bislang noch nicht gelesen hat. Mal schreibt er feinfühlig und mit hintergründigem Humor, mal brachial, immer aber mit dem Finger in der Wunde und der erkennbar klaren Zielsetzung, der Nachwelt ein bleibendes literarisches Dokument zu den für einen humanistisch geprägten Menschen seinerzeit durchweg unsäglichen gesellschaftspolitischen Lebensumständen zu hinterlassen. Seine Hauptpersonen sind der Tischler Heinrich Cresspahl, ein aufrechter, freidenkender Idealist mit gesundem Menschenverstand, der seine Vorteile zwar durchaus zu nutzen weiss, sich aber dann schicksalhaft in die jüngste Tochter eines moralisch verkommenen Gutsbesitzerehepaares verliebt und diese auch heiratet. Aus der Ehe resultiert seine Tochter Gesine, die zentrale Figur dieses Buches, deren schwierige Kindheits- und Jugendjahre hier abgehandelt werden.
Der weitere Handlungsstrang spielt im New York der Jahre 1967/68, literarisch hier dargestellt über 365 einzelne "Jahrestage" vom 21. August 1967 bis 20. August 1968, dem Vortag des sich soeben zum 50. mal jährenden "Prager Frühlings", also des Einmarsches der sowjetischen Truppen in den Bruderstaat CSSR (der im Buch zuletzt eine tragende Rolle spielt). Die inzwischen 35-jährige bereits verwitwete und allein erziehende Gesine Cresspahl ist in 1961 mit ihrer 10-jährigen Tochter Marie nach dem Verlassen der DDR über westdeutsche Zwischenstationen, zuletzt Düsseldorf, dorthin gezogen und dann irgendwie hängen geblieben. Sie arbeitet als Fremdsprachensekretärin in einer Bank in Midtown Manhattan und lebt mit Marie in einer kleinen Wohnung am Riverside Drive auf der damals noch -wie fast alle Stadtteile- herunter gekommenen Upper Westside. Johnson (der die Cresspahls in der gleichen Wohnung ansiedelt, die er in den Jahren 1966-68 mit seiner eigenen Familie anlässlich eines mehrjährigen Aufenthaltes in NY bewohnte) begeistert hier mit bunten, profunden und authentischen Berichten über die Stadt und ihre Bewohner sowie das dortige Leben im Allgemeinen wie auch im Kleinen im täglichen Überlebenskampf dieser toughen Frauen, die sich beide, jede auf ihre Art, durchzubeißen wissen. Gesine erzählt dabei ihrer cleveren, liebenswerten, vorpubertär auch mal zickigen Tochter (und damit dem Leser) rückblickend ihre gesamte Lebensgeschichte. Diese Gespräche, deren oftmals plötzliche Tiefe, die die ganze Verletzlichkeit beider Personen offenbaren, waren für mich die eigentlichen Höhepunkte des Werkes. Hier zeigt Johnson seine ganze Klasse und seine Fähigkeit, sich in die Köpfe seiner weiblichen Hauptprotagonistinnen zu versetzen und sich ihre Gefühle anzueignen.
Zum Schluss kulminiert das Buch dann in einer sich rasant beschleunigenden Abfolge von Veränderungen und Ungewissheiten, die den Leser -bewusst- in einem Zustand der leichten Ratlosigkeit mit innerem Unbehagen zurück lassen. Und dem Wunsch, dass die in 1983 vom Autor beendete Geschichte der Beiden doch weiter gehen möge. Dazu ist es jedoch leider nicht mehr gekommen, da Johnson bereits ein Jahr nach Beendigung seines Werkes auf seinem letzten Wohnsitz, einer englischen Kanalinsel, unter nicht genau geklärten Umständen verstarb.
Trotz seines monumentalen Umfangs eines der besten, beeindruckendsten und vielschichtigsten Bücher, die ich bisher gelesen habe. Die bildhafte, altertümlich verschrobene, mal direkte wie auch überraschend gefühlvolle Sprache Johnsons mit ihren ungezählten Einsprengseln aus dem Mecklenburgischen, Englischen, Französischen, Tschechischen, Russischen bleibt einzigartig. Absolute Leseempfehlung für Menschen, die sowohl eine ehrliche, lügenfreie und dezidierte Aufbereitung deutscher Geschichte aus erster Hand lesen wie auch in eine hochintensive, ganz spezielle, unter die Haut gehende Mutter-Tochter-Beziehung abtauchen wollen.