"Burkewitz hat abgelehnt." sind die ersten Worte im "Roman mit Kokain". Nur was er nicht genehmigt hat, erfahren wir erst zum Ende dieser furiosen Geschichte.
Es ist die Zeit vor der russischen Revolution. Wir begleiten Wadim, einen typischen Antiheld, auf dem Weg geradeaus in sein Verderben. Wadim, der zwar in ärmlichen Verhältnissen lebt und aus Scham seine Herkunft und vor allem seine Mutter verleugnet, besucht ein Moskauer Gymnasium und ist dort aufgrund seines schneidigen Auftretens unter seinen Mitschülern hoch angesehen. Beim täglichen Streunen über die Moskauer Boulevards lernt er Mädchen kennen, die er zur Befriedigung seiner sexuellen Triebe ausnutzt.
Später, er ist inzwischen Jurastudent, lernt er mit Sonja seine große Liebe kennen. Doch auch dieses scheinbare Glück ist nicht von Dauer, da er nicht fähig ist geistige und sinnliche Liebe als Einheit zu erleben.
Nach der Trennung verfällt er, wenn auch eher rein zufällig, einer neuen Leidenschaft – dem regelmäßigen Genuss von Kokain.
Seine – bis dahin zwar in ihrem Zynismus und ihrer Grausamkeit manchmal schwer zu ertragenden – Gedanken werden immer wahnhafter und sein früher Tod mit Anfang 20 lässt nicht lange auf sich warten.
1936 in einem russischen Exilverlag in Paris erstmalig unter dem Pseudonym M. Agejew erschienen, wurde der "Roman mit Kokain" bis in die 1990er hinein für ein Nebenwerk Nabokovs gehalten. Inzwischen geht man davon aus, das es von dem russischen Autor Mark Levi stammt, dessen eigene Lebensgeschichte selbst romanhaft abenteuerlich anmutet. Im Manesse Verlag ist das Werk 2012 nun erstmalig in direkter Übersetzung aus dem Russischen – und mit korrektem Ende – auf Deutsch erschienen. Der Titel ist im Original doppelsinnig. Das Wort "Roman" bedeutet sowohl Roman im literarischen Verständnis als auch Liebesaffäre.
Was mich beim Lesen sehr traurig gemacht und auch entsetzt zurückgelassen hat, war Wadims rücksichtsloses, gefühlskaltes Verhalten gegenüber seiner Mutter und den weiteren Frauen. Aber die sprachgewaltigen Bilder haben mir sehr, sehr gut gefallen und ich habe mich gerne von Wadim sozusagen wie im Rausch mitreißen lassen.
Eine klare Leseempfehlung für alle, die sich für ein außergewöhnliches Stück Literatur aus dem frühen 20. Jahrhundert interessieren (das hier überaus gesellschaftskritisch und modern daherkommt) und natürlich – wen wundert's? 😉 – Verehrer*innen Wladimir Nabokovs.
Mein liebster Satz: "Das Streben der Menschen, die seelische Schaukel hoch in Richtung MENSCHLICHKEIT fliegen zu lassen, worauf unvermeidlich der Schwung zurück in Richtung BESTIALITÄT folgt – dieses Streben zieht sich als wundersame und zugleich blutige Spur durch die Geschichte der Menschheit."
Valerie Engler
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Valerie Engler
Keinen Eintrag gefunden.
Neue Rezensionen zu Valerie Engler
Eine Kindheit im Kiew der Breschniew-Zeit
Der Roman "Frühling auf dem Mond" der 1966 in Kiew geborenen und mittlerweile in Berlin lebenden ukrainischen Autorin Julia Kissina, der nichtsdestotrotz im Original in russischer Sprache verfasst ist, ist ein spannendes Porträt eines etwas rebellischen und mit einer gehörigen Portion surrealistischer Gedanken ausgestatteten Mädchens, das wohl als zumindest fiktives alter ego der Autorin verstanden werden kann.
"Man zwingt mich zu wachsen. Man zwingt mich, das papierene Rückgrat zu strecken. Man misst mich mit dem Lineal, ob mein Wachstum nicht stockt, man wiegt mich und spickt mich mit Vitaminen. Meine Eltern achten sorgfältig darauf, dass ihr mickriges Geschöpf Fleisch isst."
Julia wächst im jüdisch-bürgerlichen Milieu auf. Ihr Vater schreibt Texte und Szenarien für den Zirkus, lebt in permanenter Angst, denunziert zu werden. Die Mutter gibt sich der Pflege von wirren alten Damen hin, und Julia erforscht und erkundet ihre Umgebung, ihre sich im Stadium des langsamen Zerfalls befindende Heimatstadt Kiew.
Beeindruckend sind die Passagen dieses meist überzeugenden Textes, in denen Julia Kissina die schmutzigen, dunklen, schäbigen, zerkratzten und unschönen Seiten des spätkommunistischen Kiews zum Leben erweckt, indem sie mit wunderschönen Sätzen leicht surreale Stimmungsbilder erzeugt. So weckt sie verrostete Eisengestelle in einem Park zum Leben, zugewachsene, verwilderte Wiesen, oberflächlich schöne noble Straßenzüge. Das Kiew der jungen Julia ist eine wilde, verwunschene Welt, in der die kommunistische Gesinnung nur am Rande Einzug hält, was oft von der jungen Protagonistin unverstanden bleibt. So bleibt der Blick auf das wilde Treiben unschuldig, was die Beobachtungen umso interessanter für den Leser macht.
Nachts unterhält sich die Protagonistin mit den Führern des Weltproletariats und trifft sich tagsüber oft mit einem älteren, sich als Pole ausgebenden Schriftsteller, der nunmehr Bücher über die französische Küche verfasst und Julia mit dem Anatomischen Institut aus der Zeit der Zaren und Weißgardisten bekannt macht. In dem Gebäude, versteckt in verwilderten Gärten, findet Julia zu ihren "lunatistischen" Gedanken. Der Zerfall des Materiellen und die Aura des Todes ziehen sie an und beleben ihre Selbstwahrnehmung, die den Text dieses eindrucksvollen Romans nährt.
Nicht ganz so überzeugend ist leider die formale Gestaltung des Romans. In kurzen Kapiteln rast das Geschehen von einer Sache zur nächsten. So, dass man als Leser eher meint, eine Sammlung von Ereignissen, so wie knappe Erzählungen, die teilweise Schnittstellen haben, meistens aber nicht, zu lesen. So findet die Sprache in der Form keinen Partner, was den Roman noch stärker gemacht hätte. Auch die Personen dieses Romans bleiben teilweise überzeichnet und verschiedensten Klischees verhaftet, vom korrupten Onkel bis hin zur verrückten alten Dame in der Anstalt und den Anderen; das ist allerdings offensichtlich so gewollt, damit der Leser die Begleitfiguren eben nur als solche, gesehen durch die surreal-getönte Brille der jungen Julia, gesehen werden.
Von Valerie Engler großartig übersetzt, ist Julia Kissinas erster Roman "Frühling auf dem Mond", ihre dritte Veröffentlichung, nach einem interessanten Erzählungsband "Vergiss Tarantino" und einem Kinderbuch, sicherlich eine wirkliche Empfehlung, auch wenn der Rezensent die eine oder andere Kleinigkeit bemängelt hat.
(Roland Freisitzer; 04/2013)
Verlag: Manesse.
Umfang (Geb. Ausgabe): 256 Seiten.
Inhalt:
Im von gesellschaftlichen Skandalen und Exzentrik geprägten Moskau am Vorabend der Revolution wächst der Protagonist und Ich-Erzähler Wadim Maslennikow bei seiner verwitweten Mutter in armen Verhältnissen auf. Wadim bestiehlt seine Mutter, schlägt sie und lässt sie seinen Hass und seine Ablehnung spüren, bis sie sich schließlich erhängt. Seine Tage und Nächte verbringt Wadim in Moskauer Bars, er verkehrt mit Prostituierten, infiziert ein junges Mädchen mit Syphilis und demütigt seine einzige Liebe. Wadim verfällt immer mehr seiner Kokainsucht, er ist zerrissen zwischen emotionalen Hochs und Tiefs, zwischen Mutter-Hass und Selbsthass und verzweifelt an der Unvereinbarkeit von Körper und Geist. Die Droge wird schließlich seine einzige und ideale Geliebte, fähig, ihm Glücksmomente zu suggerieren, während er tatsächlich dem paranoiden Wahnsinn und Tod entgegentreibt.
Zum Schluss holt Wadim die Weltgeschichte (in Form der Oktoberrevolution) ein, die ihm die weiße Freundin erspart hatte. Sein ehemaliger Mitschüler Burkewitz, der es mit eiserner Disziplin zum Sowjet-Kommissar gebracht hat, verweigert Wadim die Aufnahme in ein Sanatorium und damit die Rettung. Er sei von keinem Wert für die Revolution.
Im Epilog berichtet ein Moskauer Arzt, dass Wadim Maslennikow mit einer Überdosis Kokain Selbstmord verübt habe. In seiner Tasche fanden sich seine in ein Tuch eingenähten ‚Erinnerungen’.
Erzählzeit: Vergangenheit.
Erzählperspektive: Ich-Erzähler Wadim Maslennikow
Setting: Moskau.
Anstelle meiner üblichen Analyse von Sprache und Duktus ein Zitat aus dem Roman, das für sich selbst spricht:
"Hinter dem Fenster begann das benachbarte Haus Falten zu werfen. Sein Schornstein riss sich los und zerfiel nass im metallischen Himmel. Ich gab mir keine Mühe, die Tränen wegzublinzeln, die meine Augen füllten."
Der Autor – eine Spurensuche:
Genauso interessant wie die psychische Pathologie des Protagonisten ist die Suche nach seinem Erschaffer. Sie hätte perfekt in Woody Allens Paris-Ode ‚Midnight in Paris’ gepasst.
Das erstmals 1936 in einem Pariser Verlag für russische Exil-Schriftsteller erschienene Werk war gut vierzig Jahre lang in Vergessenheit geraten, als die russischstämmige Französin Lydia Chweitzer ein Exemplar des Romans bei einem Bouquinisten an den Ufern der Seine wiederentdeckte. Sie war von der Lektüre des Buches, das sie bereits aus ihrer Jugend kannte, so begeistert, dass sie den Roman ins Französische übersetzte, um ihn einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Ihre französische Edition war der Ausgangspunkt für weitere Übersetzungen und für den späten internationalen Erfolg des Romans. Auch eine deutsche Ausgabe erschien Mitte der 80er Jahre bei Rowohlt. Sie wurde von Daniel Dubbe übersetzt – allerdings aus der französischen Version, nicht aus dem russischen Original des Autors. Dieses Versäumnis wurde nun vom Manesse Verlag nachgeholt.
Doch wer steht eigentlich hinter dem Pseudonym M. Agejew? In ihrem Vorwort konnte Lydia Chweitzer damals nur Anhaltspunkte über den Autor nennen. Der Roman sei ursprünglich in einem russischen Emigranten-Magazin in Paris erschienen. Das Manuskript habe der Autor offenbar aus Konstantinopel an den Verleger geschickt.
Viele vermuteten Nabokov hinter dem Pseudonym. Diese-Spur erwies sich jedoch als ‚Wishful Thinking’. Vera Nabokov, die Witwe des weltberühmten Autors kommentierte: "Mein Mann hat den '’Roman mit Kokain’’ nicht geschrieben, das Pseudonym Agejew nie benutzt ... Er war nie in Moskau, hat nie Kokain genommen und schrieb, im Gegensatz zu Agejew, ein sauberes und korrektes Petersburger Russisch.“
Eine weitere Spur wies in Richtung der Exil-Russin Lidija Tscherwinskaja, die Agejew gekannt haben sollte. Ein Freund der Frau, der Pariser Slawistik-Professor Rene Guerra, kannte ihr Domizil: ein Altersheim in der Nähe von Paris.
Lidija Tscherwinskaja, die 1907 in Kiew geboren wurde, emigrierte 1919 mit ihren Eltern nach Konstantinopel. Später zog sie nach Paris und gehörte schnell zur intellektuellen Bohème am Montparnasse, dem bevorzugten Viertel der Exil-Russen, die vor der Oktoberrevolution geflohen waren. Ein Mitarbeiter des Emigranten-Magazins, das den Roman veröffentlicht hatte, bat 1934 die Russin Kontakt zu Agejew in Konstantinopel aufzunehmen, da sie weiterhin regelmäßig ihre Eltern dort besuchte, und mit der Örtlichkeit vetraut war. Die Adresse, die man ihr nannte, führte Lidija Tscherwinskaja schließlich zu einer Nervenheilanstalt im jüdischen Viertel von Konstantinopel. Agejew, ein russischer Jude, der tatsächlich Mark Levi hieß, wurde im Sanatorium wegen „Zittern der Hände" und „Halluzinationen" behandelt. Der Russin gelang es, dem Autor in einer Buchhandlung einen Job zu vermitteln. Natürlich verliebten sich die beiden. Wie Woody Allen diesen hollywoodreifen Fall übersehen konnte, ist mir ein Rätsel.
Lidija Tscherwinskaja erzählte, dass Mark Levi im Bürgerkrieg einen Offizier der Roten Armee erschossen hatte. Danach sei er aus Russland nach Berlin geflohen, das damals rund 500.000 Exilrussen beherbergte. Während seiner Zeit in Berlin schrieb Mark Levi ‚Roman mit Kokain’ unter dem Pseudonym M. Agejew. Nach ihrer kurzen Affäre bestieg Lidija Tscherwinskaja den Orientexpress in Richtung Paris und hatte nie wieder Kontakt zu Mark Levi. Aktuelle Nachforschungen haben ergeben, dass Levi wahrscheinlich 1973 im armenischen Jerewan starb. Er hatte offenbar in die Sowjetunion zurückkehren dürfen, weil er sich 1942 an einem Attentat auf den deutschen Botschafter in Ankara beteiligte.
Persönliches Fazit:
Die Story hinter der Story ist fast so gut wie der Roman selbst. Fast. ‚Roman mit Kokain’ ist eine absolute Lese-Empfehlung. Der psychisch en détail sezierte Protagonist, der dramaturgisch perfekte Plot und die sprachgewaltige Ausgestaltung gehen eine perfekte Symbiose ein.