Rezension zu "Die Gezeiten gehören uns" von Vendela Vida
… wirst du merken, dass das Leben im Golden State Kalifornien auch nicht so viel anders ist anderswo auf der Welt. Zumindest wenn du ein Teenager-Mädchen bist. Zugegeben, die Protagonistin Eulabee in Vendela Vidas Roman Die Gezeiten gehören uns hat einen ungewöhnlicheren Vornamen als die meisten Mädchen in ihrem Alter. Und ihre Familie ist – trotz Haus mit Blick auf die Golden Gate Bridge und einer Privatschule für die Kinder – nicht so wohlhabend wie der Rest der Nachbarschaft (die Mutter geht sogar arbeiten!). Doch das ändert nichts daran, dass Eulabees Gedanken um genau dieselben Themen kreisen wie bei jeder anderen Heranwachsenden: ihre Freundinnen – allen voran ihre beste Freundin Maria Fabiola, die sich besonderer Beliebtheit erfreut –, Jungs (umso mehr, da Eulabee und ihre Clique auf eine reine Mädchenschule gehen) und den Schulalltag.
So unaufgeregt diese Zusammenfassung klingt, so unaufgeregt liest sich auch der ganze Roman. Zwar gibt es einen zentralen Konfliktpunkt in der Geschichte, der den weiteren Verlauf der Story maßgeblich beeinflusst, doch ist dieser frei von übertriebenem Drama oder großer Spannung. Eines Morgens werden Eulabee und ihre Freundinnen auf dem Weg zur Schule von einem Mann angesprochen. In Eulabees Erinnerung fragt er nach der Uhrzeit; in der Version von Maria Fabiola berührt sich der Mann unsittlich in der Gegenwart der Mädchen. Die Clique schließt sich schnell Maria Fabiolas Geschichte an, die Polizei wird gerufen, die Schule samt Schülerschaft und besorgter Eltern sind in Aufruhr. Eulabee bleibt bei ihrer Meinung, was sie schnell zur Außenseiterin macht; Maria Fabiolas Aussagen wird in der Peergroup zu absoluten Wahrheit, die noch an Brisanz gewinnt, als Maria Fabiola spurlos verschwindet…
Die Gezeiten gehören uns erzählt von Gruppenzwang, kleinen Lügen unter Mädchen und von einer Protagonistin, die in jungen Jahren nicht wankt, sondern zu ihren Überzeugungen und letztlich auch der Wahrheit steht. Der Reiz des Romans besteht jedoch darin, die Andeutungen zwischen den Zeilen nicht zu überlesen, die bei der Schilderung einer vermeintlichen Nichtigkeit unter Heranwachsenden leicht untergehen könnten: Vendela Vida thematisiert Machtkonzentration bzw. Machtgefälle vor der Kulisse des reichen San Francisco – die Macht der Reichen und Schönen, die Macht des Geldes, die Macht Männer über Frauen, die Macht einer guten Geschichte. Ihr Ton ist dabei stets ruhig, die Darstellungen eher knapp, auf jeden Fall nie ausufernd, die Perspektive ihrer Protagonistin Eulabee vernünftig und abgeklärt.
Wer Action, Spannung oder große Unterhaltung erwartet, wird mit Die Gezeiten gehören uns definitiv nicht glücklich. Wer Lust auf eine eigentümliche, bisweilen auch eigenartige Geschichte über das Erwachsenwerden hat, die besonders mit ihrer starken, da gut gezeichneten jungen Hauptfigur punktet, der findet in dem Roman einen hervorragenden Zeitvertreib. 4 Sterne!