Ein leiser Aufschrei aus einem Frauenleben – eindringlich, ehrlich, ergreifend.
In "Das verbotene Notizbuch" von Alba de Céspedes geht es um eine Frau, die durch das Schreiben beginnt, sich selbst zu hinterfragen – mit weitreichenden Konsequenzen. De Céspedes, 1911 in Rom geboren, war nicht nur eine herausragende Schriftstellerin, sondern auch politische Aktivistin im Widerstand und eine der bedeutendsten weiblichen Stimmen des 20. Jahrhunderts. Ihre Werke erleben aktuell zu Recht eine Renaissance – ihre Themen sind heute aktueller denn je.
Worum geht’s genau?
Valeria lebt im Rom der Nachkriegsjahre ein Leben, wie es viele Frauen zu jener Zeit führten: pflichtbewusst, aufopfernd und angepasst. Sie ist Ehefrau, Mutter, Büroangestellte – doch nicht mehr sie selbst. Ihr Mann nennt sie „Mama“, ihre eigenen Bedürfnisse scheinen in der täglichen Routine verschüttet. Eines Tages kauft sie ein schwarzes Notizbuch – heimlich – und beginnt, darin zu schreiben. Was harmlos beginnt, wird zum inneren Befreiungsschlag. Ihre Gedankenwelt offenbart eine tiefe Erschöpfung, verdrängte Sehnsüchte und aufgestaute Wut. Sie beginnt zu lügen, zu träumen, sich selbst zu suchen – und zu verlieren. Ihre Beziehung zu Mann und Kindern verändert sich, ihre Rolle im Leben wird fragwürdig. Und bald steht sie an einem Punkt, an dem die Wahrheit gefährlicher scheint als die größte Lüge.
Meine Meinung
"Das verbotene Notizbuch" war mein erstes Buch von Alba de Céspedes – aber garantiert nicht mein letztes. Schon nach wenigen Seiten hat es mich gepackt & ich war gefangen in der Stimme Valerias, die so leise und gleichzeitig so eindringlich erzählt. Die Sprache ist klar, voller psychologischer Tiefe und emotionaler Wucht. Dass dieses Buch kein neues ist, sondern aus den 1950er Jahren stammt, ist unglaublich – es liest sich absolut zeitlos. Der Konflikt zwischen persönlichem Wollen und gesellschaftlichem Müssen, zwischen Tochter, Mutter, Ehefrau und der eigenen Identität trifft mitten ins Heute.
Besonders beeindruckt hat mich, wie präzise de Céspedes die Erschöpfung und das Unsichtbarwerden von Frauen beschreibt:
„Mir ging auf, dass es in der ganzen Wohnung kein Schubfach und keinen Winkel mehr gab, der noch mir gehörte“ (S. 10).
Diese kleine Beobachtung steht symbolisch für Valerias Leben – und das vieler Frauen.
Ihre Rolle als Mutter und Ehefrau ist geprägt von Selbstaufgabe. Als ihr Mann sie nur noch „Mama“ nennt, fühlt sie sich zutiefst gedemütigt.
„Wenn er mich >>Mama< nennt, reagiere ich mit der gleichen zärtlichen Strenge wie damals bei Riccardo, als er noch klein war. Doch jetzt wird mir klar, dass das falsch gewesen ist: Er war der einzige Mensch, für den ich Valeria war. Meine Eltern nennen mich seit jeher Bebe, und bei ihnen ist es schwer, eine andere zu sein als das kleine Mädchen, dem sie diesen Spitznamen gaben; denn auch wenn beide von mir all das erwarten, was man von erwachsenen Menschen erwartet, will ihnen offenbar nicht in den Kopf, dass ich tatsächlich erwachsen bin. Ja, Michele war der Einzige, für den ich Valeria war. Für manche Freundinnen bin ich noch die Pisani, die Schulkameradin, für andere bin ich die Frau von Michele, die Mutter von Riccardo und Mirella. Doch für ihn war ich, seit wir uns kennenlernten, nur Valeria. (S. 14)
Ein bittersüßer Ausdruck, der zeigt, wie wenig Raum für Individualität geblieben ist.
Auch das Verhältnis zu ihren Kindern ist konfliktreich. Valeria sehnt sich nach Anerkennung und Gleichgewicht – doch sie bekommt keine Pause. Ihre Erschöpfung wird ignoriert, ihre Mühen selbstverständlich hingenommen:
„Man muss schon sehr hohes Fieber haben, um in dieser Familie als ernstlich krank zu gelten“ (S. 28).
In vielen Momenten fühlte ich mich Valeria tief verbunden – dann wieder distanziert. Sie ist keine Heldin, keine Heilige, sondern zutiefst ambivalent. Sie lügt, sie betrügt, sie sehnt sich nach Freiheit – und hat gleichzeitig Angst davor. Das macht sie so menschlich, so real.
Beeindruckt hat mich, wie subtil de Céspedes die gesellschaftlichen Schranken sichtbar macht – gerade in der Gegenüberstellung von Valeria und ihrer Tochter Mirella. Mirella ist jung, wild, entschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen. Valeria, die einst dachte, sie würde es besser machen als ihre Mutter, muss erkennen: Es gelingt ihr nicht. In diesen Szenen wird das Buch für mich auch zum feministischen Generationenroman, der zeigt, wie sich Lebensrealitäten verändern – und wie hartnäckig sich patriarchale Muster halten.
Ein weiterer starker Moment ist Valerias Erkenntnis über das Theater des Alltags:
„Wie schwer es ist, in den Menschen, die uns umgeben, etwas anderes zu sehen als die Rollen, die sie uns gegenüber zu spielen gezwungen sind“ (S. 111).
Genau darum geht es in diesem Roman: um Rollen, um Masken, um das leise Zerbrechen daran.
Gegen Ende hat mich das Buch ein wenig verloren. Valeria wird in ihrem Verhalten schwerer greifbar, teils selbstgerecht. Doch vielleicht ist auch das konsequent – denn Selbstfindung ist kein gerader Weg.
Trotz aller Düsternis und Melancholie liegt in diesem Buch ein stiller Trost: dass es erlaubt ist, sich selbst zu hinterfragen. Dass Sehnsucht nicht Schwäche, sondern Lebendigkeit ist. Und dass Schreiben eine Form des Überlebens sein kann.
Fazit
Ein zutiefst bewegendes, kluges und mutiges Buch über weibliche Identität, familiäre Rollenbilder und das stille Verlangen nach einem selbstbestimmten Leben. Nur der leicht schwächere Schluss verhindert die volle Punktzahl. Von mir gibt es dennoch 4,5 von 5 Sternen.