Rezension zu "Die Geschichte von Kullervo" von J. R. R. Tolkien
Wer die Veröffentlichungen der letzten Jahre, wie "Sigurd und Gudrún" und "König Arthurs Untergang", verfolgt hat, weiß bereits, dass es neben Mittelerde noch viel unentdecktes im Schaffen des großen Autors gibt. Die amerikanische Philologin Verlyn Flieger nimmt sich hier das finnische Nationalepos Kalevala vor, aus dem Tolkien schon im zarten Alter von zwanzig Jahren die Geschichte eines bestimmten Helden nacherzählte.
Kullervo soll der Prototyp sein, aus dem mittelerdische Helden wie Túrin Turambar geschnitzt sind. Die Tragik von Kullervos Schicksal spricht ebenso dafür wie die Düsternis seiner Geschichte, sowie die immer wieder auftretenden zauberischen Elemente seiner Umgebung. Nicht nur der böse Onkel ist ein Zauberer, auch die Umgebung, vom Fluss bis hin zu den Tieren ist beseelt und durchaus eigensinnig. Diese Episode des Kallevala ist eine Geschichte, wie sie nur eine Überlieferung eines mythologisch weitgehend eigenständigen Kulturkreises hervorbringen kann, der vom Einfluss herumtobender germanischer Sagafiguren verschont blieb.
Tolkiens Nacherzählung beansprucht gerade einmal siebzig Seiten des Buches, der Rest ist streng genommen Bonusmaterial. Siebzig Seiten machen noch kein Buch, also findet sich neben der kundigen deutschen Übersetzung von Joachim Kalka noch die englische Originalfassung, passend auf der gegenüberliegenden Seite zum Vergleichen. Verlyn Fliegers Einleitung hilft dabei, Kullervos Geschichte im Schaffen Tolkiens und im Kontext des übrigen Kallevala einzuordnen.
Da allerdings niemand anderes als Tolkien selbst seine Faszination für diesen Text besser erklären könnte, finden wir noch die Abschrift eines Vortrages, den er erstmals 1914 in Oxford hielt. Genauer gesagt zwei, denn neben dem ursprünglichen Manuskript ist gleich danach noch das Typoskript enthalten, das der Ursprungsfassung so stark ähnelt, dass man hier eine unnötige Streckung um dreißig weitere Seiten vermuten könnte. Die ausführlichen Anmerkungen zum Manuskript dürften außerdem nur Leser interessieren, die sich Tolkiens Werk mit den Mitteln der Literaturkritik nähern.
Wer sich für Mythologie jenseits der sattsam bekannten germanischen, griechischen und römischen Legenden interessiert, der findet hier zumindest in der tatsächlichen Nacherzählung von Kullervos Schicksal einen interessanten Einstieg in die Welt des Kalevala. Verlyn Fliegers Aufsätze ergänzen das von Tolkien skizzierte Bild auf sinnvolle Weise, die Anmerkungen zur Geschichte liefern zusätzliche Informationen, denn selbst die nacherzählte Geschichte ist nicht ganz vollständig überliefert.
Kritiker werden in dem Band vermutlich eher ein Mittel zur Vermarktung von Tolkiens gutem Namen sehen. Ein nicht ganz unzutreffendes Argument, denn von ihm sind nach Abzug aller übrigen Aufsätze und Anmerkungen höchstens zwei Drittel des Inhalts. Allerdings kann genau dieser Name einer interessierten Leserschicht diese so fremdartige Welt näherbringen und mehr Interesse für Tolkiens umfangreiches Werk jenseits von Mittelerde wecken.
Originaltitel: "The Story of Kullervo"
Bonusmaterial: Anmerkungen zu Geschichte und Aufsätzen, Illustrationen und Abbildungen aus dem Original-Manuskript