Rezension zu "Die Schildkröten" von Veza Canetti
Wer auf dem Boden liegt, bekennt seine Niederlage ein. Man hat nichts mehr zu tragen, wenn man liegt. Man hat keinen Stolz mehr, man hat auch keine Bürde. Man ist jeder Last enthoben.
Veza Canetti erschafft in „Die Schildkröten“ ein unfassbares, beinahe nicht greifbares Weltbild. Mit einer Mischung aus Expressionismus und Realität gelingt es ihr, den Unglauben gegenüber den Taten des Nationalsozialismus in Worte zu fassen, wie er sich langsam verbreitete, wie man plötzlich niemanden mehr trauen konnte und anfangs noch nicht zu wissen schien, was oder wem man glauben sollte. Manchmal sind die Grenzen in dieser Gestaltung so dünn, dass ein unangenehmes Gefühl in der Brust entsteht.
Der Roman erzählt aus verschiedenen Perspektiven von dem Machtumschwung in Österreich, so bezieht er sich durchaus auf reale Geschehen – wie die von den Nazis ausgerufene „Kristallnacht“ aber auch auf den erfolgten Attentat in Paris 1938. Zu großen Teilen erhält der Leser/die Leserin Einblick in das Leben von Eva, ihrem Ehemann und Schriftsteller Andres Kain, dessen Bruder Werner und der Familienfreundin Hilde. Alle vier sind sie Juden, weswegen ihr Anwesen langsam von dem SA-Mann Pilz übernommen wird. Das Visum steht in Aussicht, doch die Lage spitzt sich zu – immer mehr Menschen verschwinden, werden eingesperrt und verhört, als jüdischer Einwohner ist es nicht mehr sicher und erst recht nicht als jüdischer Schriftsteller.
Es ist wohl eines der meist unterschätzten Werke der Exilliteratur und ich hoffe, bete, dass es in Schulen noch seinen Anklang finden wird. Denn die Darstellung eines schleichenden, ja infektiösen Nationalsozialismus, der sich wie eine Krankheit verbreitet, trifft die Realität in meinen Augen unfassbar gut. Auf der einen Seite scheinen die Menschen gar nicht zu merken, woran sie zu glauben beginnen, von wem sie sich beeinflussen lassen und auf der anderen Seite verbleiben die Gruppen, die ausgeschlossen werden und deren Reaktionen – wie Canetti zeigt – sich in Unglauben, Angst, Ignoranz oder in allem gemeinsam verlaufen und wechseln können. Spannend wäre hier die Frage, inwiefern dieses Spiel aus Expressionismus und Realem funktioniert und warum beim Lesen dieses ungute und zum Teil ungreifbare Gefühl entsteht.
Die Allegorie der Schildkröte zieht sich durch das gesamte Werk, wird verschieden konnotiert und steht als ein Sinnbild für die jüdische Gemeinschaft. Sie ist zwar durch ihren Panzer geschützt und trägt ihr Haus immer bei sich, doch es bewahrt sie nicht vor Wildtieren. Zweimal tritt das Beispiel eines Geiers auf, der sie in die Lüfte reißt und fallenlässt, damit der Panzer aufknackt und er sie essen kann. Neben der Schildkröte, der Frage nach expressionistischer oder realistischer Darstellung und in welchen Bildern der Nationalsozialismus vermittelt wird (ob es sich um passiven/aktiven Widerstand handelt, ob es überhaupt Widerstandsleistungen gibt), spielt auch die Dichtung eine relevante Rolle. Dabei zeigt sich, dass der Dichter die Person sei, auf die man sich verlassen könne, in der sozusagen die letzte tragende Hoffnung steckt, weswegen er auch ins Exil geschickt wird. Daran scheint er allerdings zu brechen, was unter anderem an der Sprachbarriere in einem fremden Land läge. „Die Sprache ist seine Seele, die Figuren, die er gestaltet, sind sein Körper. Er kann nur Atem schöpfen, wo seine Sprache lebendig ist, und sein Leben erlischt, wo er nicht mehr versteht und nicht mehr verstanden wird.“
„Die Schildkröten“ ist ein Meisterwerk der Exilliteratur, da es durch das Spiel des Expressionistischem und Realem eine Surrealität erzeugt, die ein beinahe unheimliches Gefühl entfacht. Es ist wie ein furchterregender Startschuss, die Erwähnung und Bedeutung von Dachau, das Zerstören von Synagogen und jüdischer Geschäfte, die Angst, der Versuch der Kontrolle und die Hoffnung, dem entkommen zu können.