Cover des Buches Solitud (ISBN: 9783865550422)
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Rezension zu Solitud von Victor Catala

Rezension zu "Solitud" von Victor Catala

von HeikeG vor 16 Jahren

Rezension

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HeikeGvor 16 Jahren
Die Wucht des Schicksals Ein Klassiker der katalanischen Literatur erscheint erstmals auf Deutsch: Solitud von Catarina Albert i Paradís - berühmt geworden unter dem Namen Víctor Catalá. Ursprünglich als Fortsetzungsgeschichte für eine Zeitschrift konzipiert, wurde der Roman 1905 in Buchform veröffentlicht und erzielte durchschlagenden Erfolg, der auch 100 Jahre nach Erscheinen genuin spürbar ist. Solitud offenbart ein starkes erzählerisches Genie der Schriftstellerin Catarina Albert - alias Víctor Catalá (1869-1966). Sie vermag auf unnachahmliche Weise "eine Handlung zu entwickeln und sie in einen kühnen, verschlungenen, einmaligen Stil zu kleiden, verglichen mit dem, was zu ihrer Zeit in Katalonien (und Umgebung) Maßstab war", berichtet der katalanische Journalist und Autor Jordi Puntí in einem Nachwort zu diesem Buch. Derweil sind ihre Texte mehr oder weniger ein ausschließliches Extrakt ihrer Fantasien, denn die Autorin konnte nicht gerade auf ein reichhaltiges Leben zurückblicken. Sie lebte fast ständig ans Haus gefesselt, sah, obwohl sie in einem Küstenort wohnte, nie das Meer. All ihren geistigen Reichtum verdankte die Schriftstellerin, die aus einer reichen Familie mit Landbesitz stammte, dem Leben mit Büchern. In der Bibliothek des Hauses, in der auch literarische Strömungen aus dem Ausland (Henrik Ibsen, Maurice Maeterlink) Aufnahme fanden, vertrieb sie sich die Langeweile. "In meinem Klosterdasein hinter geschlossenen Fensterläden, in einem Dorf, wo es nicht einmal einen Klavierlehrer gab, war das Schreiben meine einzige Zerstreuung. Sticken machte mir keinen Spaß. Ich ging selten spazieren. Ich kenne mich fast nirgends aus", sagte sie 1926 in einem Interview. Doch wenn man ihre Werke und vor allem diesen Roman liest, mag man dies nicht glauben. Ihre Geschichte um die Bauerntochter Camila - genannt Mila - durchzieht ein unglaublich klares Wissen um die Leiden der menschlichen Existenz auf dem Lande. Mila bezieht mit ihrem Mann Matias eine Einsiedelei in der schroffen Bergwelt Kataloniens, in der Nähe der Ortschaft Murons. Voller Optimismus - der Schönheit der Natur im schwindenden Herbst gewahr - stellt sich die junge Frau mit der "schreckhaften Rehnatur" dem eremitischen Leben. Im Schäfer Gaietà findet sie einen wahren Freund und entwickelt für dessen Gehilfen, den kleinen Baldiret, mütterliche Gefühle. Voller Eifer stürzt sie sich in die Arbeit. Sie putzt, pflanzt, gestaltet Heim und Garten. Doch zunehmend stellt sich Langeweile und verstärkte Entfremdung und Verachtung zu ihrem - in den Tag hinein lebenden - Mann ein. "Er war schwach und feige, von dieser Schwäche und Feigheit, die Faulpelzen eigen ist." Nur die fantasievollen Geschichten des Schäfers - am abendlichen Feuer erzählt - lenken sie von der aufkommenden Lethargie ab. Dessen heitere Gelassenheit gibt ihr das Gefühl, dass "in diesen düsteren Bergen längst nicht alles Schmerz und Schrecken war." Dennoch schwebt ein unheilvoller Schatten über allem, verkörpert von dem unheimlichen Ànima, einem Wilderer, halb Tier, halb Mensch in seinem Aussehen, der Mila nachzustellen scheint und dessen Gegenwart auch den sonst so friedvollen Schäfer verändert. Eine unterschwellige Gefahr scheint von ihm auszugehen. Matias hingegen fühlt sich zu ihm hingezogen, ist immer öfter mehrere Tage verschwunden, frönt dem Glücksspiel und bringt dadurch die kleine Familie in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. Mila verfällt zunehmend in Depressionen. Sie magert ab, lässt sich gehen, weint den ganzen Tag. Abermals ist es Gaietà, der sie ins Leben zurückholt. Er wandert mit ihr in die Bergwelt, erzählt wieder seine wunderbaren Geschichten und öffnet ihr den Blick nach innen. "Alles auf der Welt ist schön, wenn man es mit den richtigen Augen ansieht, Einsiedlerin." Das eigene menschliche Dasein gerät in den Hintergrund. "Verzaubert vom unerschöpflichen Einfallsreichtum ihres Freundes, sah sie, wie sich das Land des Roquìz vor ihr ausdehnte, bis darin ganze Welten Platz fanden". Mila scheint sich in den alten Mann zu verlieben. Doch dann geschieht ein tragisches Unglück und die junge Frau verlässt die Einsiedelei - allein. Solitud ist ein Werk von unglaublich psychologischer Tiefe, die alle Charaktere durchdringt, ein Roman mit gesellschaftlicher Brisanz. Die Autorin vermag auf emphatische Weise, den Leser unweigerlich in diese Geschichte hineinzuziehen. Sie stellt immer neue Fallen und hält ständig neue Reize bereit. Ihre Figuren sind auf veritable Weise lebendig, fast körperlich greifbar und vertraut. "Denn psychologisch sind die Charaktere vollständig ausgereift, insbesondere Mila in ihrer latenten Sinnlichkeit, von der sie verzehrt und aus der Bahn geworfen wird, bis sie sich letztlich entschließt, dem Begriff solitud eine neue Deutung zu geben" (Jordi Puntí). Großartige, atmosphärische Landschaftsbeschreibungen, hellwach und von berauschender Schönheit geprägt, runden das Werk ab. Durch diese sanguine Szenerie lässt Victor Català die junge Einsiedlerin und ihre Begleiter ziehen wie "belebte Figuren auf einem unermesslich großen Gemälde". Die Erzählung schwirrt dem Leser geradezu wie eine gesummte Melodie durch den Kopf, um schließlich in ein dramatisches Finale zu münden. Solitud strahlt durch die sinnträchtige Wortwahl, die reiche komplexe Sprache, welche von Petra Zickmann imposant ins Deutsche übertragen wurde, einen besonderen Reiz aus. Der Roman ist von einer großen mythischen Schönheit und einer Stofflichkeit geprägt, die "man fast kauen kann". Es ist einerseits ein wundervolles Porträt einer Epoche mit ihren ländlichen Sitten, dem religiösen Leben und dem dramatischen Schicksal einzelner Figuren, kann aber anderseits auch als Entwicklungsroman der jungen Mila gelesen werden. Eine jüngere Studie des Werkes von Rosa Delor stellt sogar eine ebenso gewagte wie verführerische These auf: Roberto Rossellini hat sich für das Drehbuch zu seinem Film Stromboli (1950) von Solitud inspirieren lassen. Und wenn man beide Werke kennt, so kann einer gewissen Parallelität nicht widersprochen werden. Solitud ist ein moderner Roman, "weil er die formalen Regeln des 19. Jahrhunderts mit den Seelenkrisen, die das 20. mit sich bringen wird, bereits zusammenführt". Zur Zeit seines Erscheinens wurde der Autorin vorgeworfen, sich zu weit von den Formen des naturalistischen Realismus entfernt und die negativen, düsteren Aspekte des Lebens zu übertrieben dargestellt zu haben. Aber wie stellte die Autorin bereits damals fest und trifft heute umso mehr den Ton der Zeit: "Mein Credo ist der ungebremste Elektrizismus (...) das Leben schäumt und sprudelt über jede Form hinaus (...) Ich möchte es in seiner ganzen Komplexität darstellen". Fazit: Ein brillantes Buch, das auch hundert Jahre nach seinem Entstehen nichts von seiner Intensität verloren hat!
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