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Der Einstieg in das Buch und die ersten Kapitel haben mir sehr gut gefallen. Ich kannte Victor Chu nicht, aber war beeindruckt, dass er fast 45 Jahre Erfahrung als Psychotherapeut mitbringt und ich somit hoffentlich ein bisschen von seinem Erfahrungsschatz profitieren könnte. Die Erzählweise des Autors ist sehr sympathisch, denn er legt nicht die Attitüde an den Tag, dass er aufgrund seiner langjährigen Erfahrung so viel besser als junge Therapeut:innen ist, sondern ermutigt sie (uns), mutiger zu sein und einfach mal Sachen auszuprobieren. Er normalisiert Unsicherheiten, die einen vor allem zu Beginn des Berufes begleiten und kündigt an, in den unterschiedlichen Kapiteln des Buches auf Themen einzugehen, die jeden:jede Therapeut:in im Laufe seiner Laufbahn mal erlebt - er will dem jedoch vorbeugen, indem er beschreibt, wie man mit Schwierigkeiten in der Therapie umgehen kann.
Während ich mich am Anfang noch gut abgeholt und verstanden gefühlt habe, ist dieser Effekt mit fortschreitender Seitenzahl etwas verblasst. Chu hält zweifellos sein Versprechen und deckt viele Themen in seinem Buch ab, denen man als Therapeut:in begegnet, aber mit jedem weiteren Kapitel hatte ich den Eindruck, dass sich vieles was er schreibt, redundant anfühlt. Viele Themen drehen sich um die Therapeut:innen - Patient:innen Beziehung und deren Grenzen, die durch die Rollenverteilung und die dadurch entstehende Asymmetrie dieser Beziehung entstehen. Diese Asymmetrie stellt gleichzeitig einer der grössten Unterschiede dar, die diese professionelle Therapiebeziehung von privaten Beziehungen, wie etwa einer Freundschaft, unterscheiden. Ich finde es gut und wichtig, dass Chu dieses Thema aufgreift, nur hatte ich den Eindruck, dass er sich bei vielen Kapiteln wiederholt und immer wieder bei dieser Asymmetrie der Therapiebeziehung als Fazit ankommt, was ich mit der Zeit etwas ermüdend gefunden habe.
Ein weiterer Kritikpunkt, der mich gestört hat, war der inflationäre Gebrauch des Wortes "narzisstisch", mit dem Chu im Buch um sich wirft, ohne oftmals die eigentliche Bedeutung dieses Wortes im pathologischen Sinn zu meinen, was den Gebrauch dieses Wortes in dieser Häufigkeit für mich einfach unsinnig gemacht hat. Mir ist klar, dass Chu damit auf die Gefahr des Machtungleichgewichts zwischen Therapeut:in und Patient:in hinweisen will (der - wer hätte es gedacht - natürlich auf die Asymmetrie der Therapiebeziehung zurückzuführen ist), aber es gäbe bestimmt von ihrer Bedeutung her einige passendere Wörter, die hier hätten verwendet werden können. Arroganz oder Selbstverliebtheit sind nicht immer gleich narzisstisch. (Auch wenn mir diese Eigenschaften auch zuwider sind und mir leider gerade schon des öfteren bei Psychiatern in höheren Positionen begegnet sind ;))
Insgesamt deckt das Buch viele wichtige Themenbereiche ab, doch für mich war nach fast 4.5 Jahren Psychotherapie-Tätigkeit doch überraschend wenig Neues dabei, das ich nicht schon in anderen Büchern gelesen hätte. Ich würde deshalb der Empfehlung des Autors widersprechen, dass sich dieses Buch auch für erfahrenere Therapeut:innen eignet, und behaupten, dass vor allem blutige Berufsanfänger:innen davon profitieren können, um sich einerseits ein Bild davon zu machen, was sie an schwierigen Situationen erwarten könnte, worauf sie achten müssen und wie sie möglicherweise damit umgehen können. Es gibt jedoch auch einige andere Fachbücher die sich ebenfalls mit schwierigen Therapiesituationen auseinandersetzen (die einem immer wieder begegnen) und für mich viel praktischere (und für mich dadurch hilfreichere) Tipps enthalten, weshalb ich wohl nicht unbedingt dieses Buch hier als Erstes empfehlen würde, wenn mich ein:e Berufsanfänger:in nach Literaturtipps zum Einstieg fragen würde.
Fazit:
In "Briefe an einen jungen Therapeuten" schreibt Psychotherapeut und Autor Victor Chu seinem jüngeren Ich einige wertvolle Tipps, die er in fast 45 Jahren Berufserfahrung sammeln konnte und von denen er sich gewünscht hätte, sie früher zu kennen. Chu deckt viele wichtige Themen und schwierige Situationen ab, die mir selbst in meiner Berufspraxis begegnet sind. Nur fand ich leider die Fazits des Autors häufig redundant, da er sich bei vielen Themen auf die Asymmetrie der Therapiebeziehung bezieht, was für mich nicht x-fach in demselben Buch hätte wiederholt werden müssen. Insgesamt handelt es sich eher um ein Buch für Berufsanfänger:innen. Ich habe mich zwar in vielem wiedererkannt, konnte jetzt aber nicht so viel Neues für mich mitnehmen. Deshalb gibt es 3,5 Sterne von mir.