Dieses Buch ist eins von denen, bei denen ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht bei den wenigen positiven Aspekten: Die Geschichte an sich, von einer Expedition in die Arktis, wo etwas Unheimliches lauert, gefällt mir sehr, und stellenweise ist der Roman auch recht spannend und gruselig. Betonung auf ‚stellenweise‘. Der Rest ist … nun ja, als ‚Desaster‘ kann ich es nicht mal bezeichnen, denn dafür ist es viel zu langweilig. Aber der Reihe nach.
Das Buch beginnt damit, dass der Ethnologin Amelie Fischer das geheime Tagebuch von Kapitän Werkmeister in die Hände gespielt wird. Dieses Tagebuch beschreibt die dritte deutsche Polarexpedition, für die Amelie eigentlich Expertin ist, mit Details, die in den bisher veröffentlichten Tagebüchern Werkmeisters überhaupt nicht erwähnt werden: Nicht zwei, sondern drei Schiffe waren an der Expedition beteiligt; Werkmeister hatte den Auftrag, das dritte Schiff zu einer unbekannten, geheimnisvollen Stelle zu begleiten, ohne den Zweck dieser Reise zu kennen, und auf diesem dritten Schiff schienen merkwürdige Dinge vor sich zu gehen.
Die Tagebucheinträge nehmen etwa die ersten 100 Seiten ein – dafür, dass sie lediglich die Exposition für Amelies eigene Forschungsreise bilden sollen, ist das ganz schön lang. Zwar kommt darin etwas von der oben erwähnten Spannung auf (z.B. als der Kapitän des dritten Schiffs einen Matrosen von Werkmeisters Schiff entführt und ihn zwingt, es durch das schlimmste Unwetter zu geleiten), aber ansonsten wirkt dieser Part recht zäh und technisch. Auch die Crew von Werkmeisters Schiff besteht nur aus Pappaufsteller-Figuren, die selbst der Autor miteinander zu verwechseln scheint: Beispielsweise gibt es einen Dr. Weber, einen Dr. Wernecke und einen Dr. Westermann, und in einem Tagebuchauszug von Dr. Westermann heißt es: „[…] und ich konnte dem schweigend zustimmen, denn Dr. Westermann fertigte auch oft Zeichnungen aus dem Gedächtnis an.“ (S. 66) Gemeint war hier offenbar Dr. Wernecke. An sich nur ein übersehener Flüchtigkeitsfehler, aber er hat Symbolwert dafür, dass kaum eine der Figuren irgendeinen Wiedererkennungswert hat.
Schon auf dem Klappentext heißt es, dass das Tagebuch Amelie „in die Hände gespielt“ wurde, und genau darin liegt ein grundlegendes Problem, das ich mit diesem Roman habe. Woher das mysteriöse alternative Tagebuch von Kapitän Werkmeister stammt, weiß Amelie nämlich nicht einmal. Sie weiß nur, dass es ein anonymer Dachbodenfund war. Und ohne jegliche Prüfung auf Authentizität ihrer Quelle glaubt sie ohne jeden Zweifel einfach alles, was drinsteht – und darauf baut die gesamte weitere Handlung auf. Das ist nicht nur furchtbar naiv, das ist schlechte wissenschaftliche Arbeit.
Wenn wir schon von ‚naiv‘ sprechen: Das beschreibt Amelies Persönlichkeit ziemlich gut. Wenn sie denn überhaupt eine hat. Denn das einzige, was wir über sie erfahren, ist, dass sie promovierte Ethnologin ist und sich gut mit der dritten deutschen Polarexpedition auskennt. Und dass sie in den – längst verstorbenen – Kapitän Werkmeister verliebt ist. Was sie bei einer Rede auch öffentlich zugibt. Ich kritisiere das nicht per se, im Gegenteil – es wäre schon spannend, die Dynamiken zu erkunden, die entstehen, wenn man sich als forschende Person so sehr mit einer historischen Persönlichkeit beschäftigt, dass man meint, romantische Gefühle für sie zu entwickeln. Aber hier ist das Ganze so platt umgesetzt, dass es einfach peinlich ist und Amelie wie die Karikatur einer schwachen Frau erscheinen lässt, die sich nach einem starken Mann sehnt. Die Krönung ist folgender Satz, als sie die Kapitänin ihrer eigenen Polar-Expedition kennen lernt: „Zuerst war Amelie enttäuscht gewesen, dass es eine weibliche Besetzung für diesen Posten gab. Sie musste sich eingestehen, dass sie insgeheim auf einen Kapitän wie Johannes Werkmeister gehofft hatte.“ (S. 128)
Da ist es fast schon witzig, dass der Autor im Nachwort schreibt, er habe bei einem Schreibcoaching den Hinweis bekommen, dass Amelie als Figur zu blass sei, woraufhin er sie besser ausgearbeitet habe. Davon sehe ich allerdings nichts. Ich kann mir auch kaum vorstellen, wie eine Figur noch blasser gewesen sein könnte als die Amelie Fischer im fertigen Buch.
Wo wir schon von blassen Figuren und Pappaufstellern reden: In puncto Schreibstil sieht es nicht viel besser aus. In den Tagebüchern eines Kapitäns mag ein monotoner, technischer Stil noch verzeihbar sein und sogar zur Authentizität beitragen. Aber gerade an Stellen, an denen nichts Aufregenden passiert, die aber für die Handlung relevant sind, herrschte bei mir das große Gähnen. Es wirkt lustlos und anfängerhaft, nach dem Muster: ‚Erst machte sie dies, dann machte sie jenes.‘
Erst nach 200 Seiten, also der Hälfte des Buches, kommt langsam so etwas wie eine leichte durchgehende Spannung auf, als Amelie auf ihrer eigenen Polar-Expedition mit immer unheimlicheren Situationen konfrontiert wird und anfängt, etwas aktiver zu handeln. Einige Stellen finde ich auch wirklich gelungen gruselig (z.B. die unheimliche sexuelle Begegnung mit Kapitänin Tanja oder die merkwürdigen Geschehnisse rund um das Verschwinden von Amelies Kontaktperson in Tasilaq). Ansonsten verhindert der hölzerne Schreibstil jeden wirklich atmosphärischen Horror.
Die Entwicklungen zum Ende hin lassen mich verwirrt und enttäuscht zurück. Obwohl viel erklärt wird, bleiben mir wichtige Dinge ein Rätsel oder wirken durch bestimmte Enthüllungen so platt, dass ich Teile der Geschichte nicht mehr unheimlich, sondern nur noch lächerlich finde.
Konkreter (Achtung, Spoiler!):
Dass eine unheimliche Entität im grönländischen Eis schlummert, darauf wird das gesamte Buch über immer wieder angespielt. Am Ende stellt sich heraus: Für das Erwecken dieser Entität fühlt sich eine weltumspannende Geheimgesellschaft berufen, der viele einflussreiche Persönlichkeiten angehören, unter ihnen auch der ehemalige US-Präsident Donald Trump. Das würde natürlich auch seine Klimawandel-Leugnung erklären (schmelzendes Eis = die Entität im Eis wird schneller freigelegt), und auch seine absurde Idee, Grönland zu kaufen. Klingt erst mal nach einer witzigen Verschwörungstheorie, als Plot-Auflösung für einen 400 Seiten langen Horror-Thriller erscheint es mir aber komplett hanebüchen. Zumal außer platter Weltherrschafts-Pläne seitens der Geheimgesellschaft keine konkreten Ziele dahinterstecken. Sehr schade.
Wer außerdem zu diesem Geheimbund gehört: Amelies guter Freund Alexander von Bismarck. Hier rächt sich wieder einmal die Plattheit der Figuren, denn Amelie ist sehr enttäuscht, als sie von Alexanders Verrat erfährt – aber ich als lesende Person habe vorher überhaupt nicht mitbekommen, dass sie ach-so-gut befreundet waren. Sie haben lediglich zum Anfang ein paar kurze Gespräche geführt, das war’s.
Was ebenfalls im Buch immer wieder angedeutet wird und am Ende schließlich zur Gewissheit wird, ist Amelies Rolle als Auserwählte für ein Ritual zur Erweckung der bösen Entität im Eis. Warum ausgerechnet sie die Auserwählte ist? Das wird nicht erklärt. Während Kapitänin Tanja ihr ihren gar bösen Plan erklärt, fragt sie sogar nach, weil sie es selbst auch nicht versteht – und bekommt nur „Wart’s ab“ zur Antwort. Und weiter wird darauf nicht eingegangen, auch später nicht.
Am Ort des Rituals begegnet ihr dann der Kapitän des dritten Schiffs aus den geheimen Tagebüchern, der (durch Magie?) mittlerweile fast 200 Jahre alt sein muss, und er bezeichnet Amelie als seine Tochter – was sowohl rechnerisch als auch geografisch komplett abwegig ist. Amelie hat für diese Enthüllung auch nicht mehr übrig als ein naives: „Ich wusste nicht, dass ich … Ihre Tochter bin […]. Niemand hat es mir gesagt“ (S. 385) .
Das Ritual geht schief, weil Amelie kein Stück Haut und Haar von der Meeresgöttin gegessen hat, oder es funktioniert doch, jedenfalls passiert etwas, von dem überhaupt nicht klar ist, welche Implikationen es hat. Und an der Stelle endet das Buch.
Alles in allem eine enttäuschende Leseerfahrung. Die Grundidee gefällt mir gut, aber die Umsetzung lässt das Potential dieser Geschichte leider weitestgehend ungenutzt.