Eigentlich wusste man schon immer, dass die antiken Skulpturen bunt bemalt waren. Dass sich in den Museen und vor allem den Gipsabgusssammlungen immer noch vor allem die marmorweißen antiken Skulpturen finden, entspricht dem Schönheitsideal des 18. und 19. Jahrhunderts, das bis heute unsere Sehgewohnheiten bestimmt. Langsam aber scheint wieder die Farbe in das Antikenverständnis zurückzukehren, wie der gleichnamige Begleitband zur Ausstellung „Bunte Götter“ belegt.
Das umfangreiche Werk mit den zahlreichen eindrucksvollen Abbildungen farbiger Rekonstruktionen antiker Skulpturen behandelt ausführlich die unterschiedlichsten, aber doch eng zusammenhängenden Aspekte des Themas „Farbigkeit antiker Skulptur“. Denn die Erkenntnis, dass Skulpturen und Friese eben nicht im edlen Marmorweiß die antiken Gebäude und Plätze zierten, ist nicht nur Archäologenwerk. Zwar hatte man schon immer mehr oder weniger deutliche Farb- oder zumindest Pigmentspuren auf antiken Originalen finden können, dass die Skulpturen aber grundsätzlich in Zusammenarbeit mit Bildhauer und Maler gestaltet worden waren und erst dadurch ihre Aussagekraft bekamen, lässt sich schon aus den zeitgenössischen schriftlichen Überlieferungen nachweisen. Den Aussagen antiker Dichter und Philosophen über die Farbigkeit der Skulptur ist daher ein eigenes Kapitel gewidmet.
Farbige Rekonstruktionen, wie sie im Buch „Bunte Götter“ vorgestellt werden, setzen umfangreiche wissenschaftliche Voruntersuchungen und Analysen voraus, wie sie unter anderem Prof. Dr. Vinzenz Brinkmann und sein Team seit nunmehr 25 Jahren durchführen. Und auch dieser Aspekt findet im Katalog ausführliche Berücksichtigung. Da geht es um die Herkunft der Pigmente, die Zusammensetzung der Farben und Bindemittel, die Entwicklung wissenschaftlicher Analyseverfahren von der Nasschemie bis zu den heutigen proben- und zerstörungsfreien Untersuchungsmethoden. Und natürlich haben sich auch die Rekonstruktions- beziehungsweise Kopiertechniken verändert, hier seien nur die Stichworte Laser und Scannen genannt.
Neue Methoden führen auch zu neuen Erkenntnissen. Und so finden sich im Laufe der Zeit unterschiedliche Rekonstruktionsvorschläge zu ein und demselben Objekt. Damit verdeutlicht das Buch zur Farbigkeit antiker Skulptur auf sehr eingängige Weise, dass auch die im Rahmen der Ausstellungen gezeigten Bunten Götter lediglich Interpretationen der wissenschaftlichen Erkenntnisse sind. Prof. Brinkmann betont immer wieder, dass man sich bei den Rekonstruktionen möglichst ausschließlich auf wissenschaftlich gesicherte Fakten beschränkt. Insofern stellen die Rekonstruktionen zwar immer wahrscheinlichere Annäherungen an das Original, keineswegs aber das abschließend gesicherte Aussehen des Originals dar.
Jede einzelne im Buch „Bunte Götter“ vorgestellte Farbrekonstruktion erzählt eine eigene Geschichte. Das beginnt mit der Herkunft des Originals, der Art seiner Entdeckung, dem Entstehungszeitraum, der wiederum eingebettet ist, in historische und kulturelle Rahmenbedingungen. Natürlich, die Geschichte der Farbrekonstruktionsversuche und dann die daraus resultierenden Erkenntnisse über die Bedeutung der Skulptur.
Dass die Farbigkeit nicht nur auf die klassische Antike beschränkt ist, zeigen auch die Kykladenidole, jene sparsam modellierten und in ihrer Abstraktheit hochmodern wirkenden prähistorischen Steinfiguren, die sich bis in das 3. Jahrtausend vor unserer Zeit zurückdatieren lassen.
Tatsächlich geht es bei der Farbrekonstruktion nicht nur um künstlerisch- ästhetische Fragen. Die Skulpturen, Friese und Wandbilder beinhalteten vor allem Informationen, die ohne Farbe teilweise vom Betrachter gar nicht gelesen werden konnten. Besonders spannend daher auch die Kapitel über jene Rekonstruktionen, beispielsweise der Giebelskulpturen des Aphaia-Tempels, die durch die Farbgebung erst deut- und lesbar geworden sind. Durch die Farbe erkennt man hier plötzlich nicht nur die Hauptfiguren des trojanischen Krieges, zu denen ja neben den Helden auch die streitenden Götter gehören, sondern auch konkrete, schicksalhafte Ereignisse aus der Ilias, die dem antiken Betrachter bestimmte Botschaften vermittelt haben.
Das Buch „Bunte Götter“ ist letztendlich ein sehr aufschlussreiches Werk über die Geschichte der Archäologie, über die Kulturgeschichte, die Wissenschaftsgeschichte, und viele andere Aspekte, die zwar untrennbar miteinander verbunden sind, üblicherweise aber voneinander getrennt behandelt werden. Es gibt zwar viele Forschungsgebiete, die erfolgreich nur interdisziplinär betrieben werden können, aber nur wenige Bücher, denen es gelingt, dies auch anschaulich darzustellen.
Das Buch „Bunte Götter“ ist nicht oder nicht nur wegen der schönen bunten Rekonstruktionen zu empfehlen, sondern wegen der Tatsache, dass die Beschreibung der Rekonstruktionsarbeit, die so viele verschiedene wissenschaftliche Disziplinen umfasst, den Leser nicht vor der Komplexität des Themas zurückschrecken lässt, sondern diesen immer weiter in den Bann der Forschungsarbeiten zieht.
Rezension zu "Bunte Götter" von Vinzenz Brinkmann