Cover des Buches Mrs Dalloway (ISBN: 9783596140022)
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Rezension zu Mrs Dalloway von Virginia Woolf

The Queen of Semicolon

von franzzi vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Eine ungebändigt Flut an Eindrücken, Gefühlen und Lebensgeschichten, poetisch, weise, virtuos miteinander verknüpft.

Rezension

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franzzivor 10 Jahren
Virginia Woolf (1882-1941) macht es dem Leser nicht leicht. Sie sprüht nur so vor ausgefeilten wie verschachtelten Formulierungen, fügt immer noch einen Gedanken mit Kommas ein oder mit Semikolons an. Klingt nach einer beschwerlichen Lektüre ihres Romans "Mrs Dalloyway" und das ist es stellenweise auch; aber es lohnt sich.

Weil es ihr dank ihrer Semikolon- und Kommaflut gelingt, in einem einzigen Satz den Kern eines ganzen Lebens, die Tragödie eines ihrer Protagonisten oder den Zeitgeist des Zwischenkriegs-Londons unterzubringen. Und sie findet damit auch ein formales Mittel, um ihren inhaltlichen Kniff, den "Bewusstseinsstrom", sichtbar zu machen.

So folgt der Leser der titelgebenden Clarissa Dalloway, 52 Jahre alt, durch die Straßen eines hitzeerwartenden Londons im Juni. Dieser eine Tag ist es, durch den Virginia Woolf uns lotst, an dem sie die Gedanken, Geschichten und Gefühle ihrer Protagonisten auslotet. So wird Clarissa Dalloway bei ihrem morgendlichen Einkaufsgang durch Londons Straßen scheinbar nebenbei mit so vielen anderen Bewohnern der Stadt, Protagonisten oder Statisten des Romans verbunden, wenn Virginia Woolf nachzeichnet, wer alles dasselbe Ereignis des Morgens sieht, was er oder sie sich dabei denkt und wie diese wahllos zusammengewürfelten Menschen Erinnerungen teilen, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Dabei versinkt Clarissa Dalloway dank der kleinen alltäglichen Auslöser immer wieder in Erinnerungen und Grübeleien, rechtfertigt ihren Lebensweg vor sich selbst und versichert sich, dass sie ja noch nicht alt sei. Das klingt dann beispielsweise so: "Sie hatte eine nicht enden wollende Empfindung, während sie die Droschken beobachtete, draußen zu sein, draußen, weit draußen auf See, und allein; sie hatte immer das Gefühl, es sei sehr, sehr gefährlich, auch nur einen Tag zu leben." (S. 12)

Wie der Zufall so will, ist dieser eine Tag, von dem die intensiven knapp 200 Seiten des Romans erzählen, einer dieser Tage, an dem die Vergangenheit in das wohlgeordnete und stillschweigend akzeptierte Leben der Dalloways zurückkehrt - und die Ordnung stört. Peter Walsh, die innige Jugendliebe Clarissa, die sie einst aus Standesgründen zurückwies und einen "besseren Griff" heiratete, ist wieder in der Stadt, planlos, wie es mit seinem Leben weitergehen soll. Er nimmt die alten Fährten zu den alten Freunden aus Jugendtagen auf und besucht als erstes, natürlich, Clarissa.

Und auch für eine weitere Hauptfigur ist es ein wichtiger Tag, Septimus Warren Smith, der traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte, soll einem anderen, einem besseren Arzt vorgestellt werden. Seine Frau ist gewillt, dem alten Arzt zu glauben, dass ihr Mann gesund ist - und doch merkt sie sehr genau, wie sehr sein Geist in einer anderen Welt herumschwirrt.

Nicht alle Leerstellen in der immer dichter werdenden Geschichte füllt Virginia Woolf aus. Sie lässt Fragen offen, die der Leser für sich selbst beantworten kann. Allerdings kritisiert Woolf ganz offen die Klassengesellschaft des Interwar London, die Oberflächlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens und den Umgang mit psychisch kranken Menschen. Und sie rankt autobiographische Fingerzeige ein, wie auch die gut ausgewählten Anhänge der Fischer-Klassik-Ausgabe aufzeigen.

Ein warmes Buch in seiner kalten Beobachtung, ergreifend, manchmal auch scheinbar undurchdringlich, virtuos verspielt in der Form und wirkungsvoll weise in seinen Worten. Eine eindringliche und eigensinnige Poesie.

"Man konnte sich einbilden, daß der Tag, der Londoner Tag, gerade erst begann. Wie eine Frau ihr Kattunkleid und ihre weiße Schürze abgestreift hat, um sich in Blau und mit Perlen aufzuputzen, verwandelte sich der Tag, legte den Plunder ab, nahm Tüll, wandelte sich zum Abend, und mit dem selben Seufzer der Erheiterung, den eine Frau entläßt, wenn sie Unterröcke zu Boden gleiten läßt, ließ auch er Staub, Hitze, Farben fallen; der Verkehr nahm ab; Automobile, sirrend, flitzend; folgten auf das Rumpeln der Lastwagen; und hier und da zwischen dem dichten Laub der Plätze hing eine grelle Lampe. Ich gebe es auf, schien der Abend zu sagen, während er verblaßte und hinschwand [...]." (171)


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Lese-Chronik: http://www.lovelybooks.de/bibliothek/franzzi/lesestatus/1100847330/
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