'Lolita' zeichnet das detailreiche Bild einer fatalen Liebe zwischen dem älteren Humbert Humbert und der zwölfjährigen Nymphette Lolita, die ihn mit kindlicher Unschuld, gelegentlich durchbrochen von animalisch anmutenden Zügen, in ihren Bann zieht, sodass der Protagonist ihr im Laufe des Romans bis hin zum Wahnsinn verfällt. Zu Beginn der Lektüre erwartete ich einen triebhaften Pädophilen, dessen Handlungen und Gedanken Abscheu und Ablehnung hervorrufen - Nabokov jedoch lässt Humbert vielmehr als Mann von Bildung auftreten, welcher oft unbeholfen, beinahe bemitleidenswert wirkt, während Lolita trotz ihres jungen Alters gelegentlich allzu fordernd und grausam ihren Einfluss auf den Protagonisten geltend macht. Genau diese raffinierte Umkehrung der Rollen macht Nabokovs Roman ebenso spanned wie verstörend, denn man erlebt nicht Lolitas Verfall zu einem psychischen Wrack, sondern Humberts wachsende Paranoia und Ohnmacht, entwickelt also eine gewisse Sympathie ihm gegenüber, welche im Leser vorrangig zwiespältige Gefühle hervorruft und ihn deshalb in seinen Bann zieht. Selten ist es einem Autor auf so überzeugende Weise gelungen, einen fragwürdigen bis moralisch zweifelhaften Protagonisten gleichzeitig menschlich erscheinen zu lassen. Dieses Muster, welches sich auch in anderen Romanen wiederfindet (beispielsweise in 'Gelächter im Dunkel'), zeugt nicht nur von Nabokovs Fähigkeit, auf psychischer Ebene besonders interessante Charaktere zu entwickeln, sondern beweist auch unglaubliches sprachliches Geschick - so sind die Äußerungen der Personen stets zutreffend formuliert, in sich stimmig und muten teilweise sogar poetisch an. 'Lolita' zählt für mich zu den faszinierendsten Werken der Literatur, wobei die ungewöhnliche Thematik des Romans alleine für sich genommen schon einen ausreichenden Grund zum Lesen bietet, jedoch nach der Lektüre angesichts der sprachlichen Gewandtheit allmählich in den Hintergrund rückt und Nabokovs Fähigkeiten als Schriftsteller offenbart.