Cover des Buches Lucia Binar und die russische Seele (ISBN: 9783552062825)
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Rezension zu Lucia Binar und die russische Seele von Vladimir Vertlib

Entdecke Deine russische Seele!

von Ginevra vor 9 Jahren

Rezension

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Ginevravor 9 Jahren
Die russisch-jüdische Wienerin Lucia Binar ist über 80 Jahre – sie hat den 2. Weltkrieg und die vielen Jahrzehnte danach erlebt. Und das alles in dem renommierten Miethaus in der Mohrengasse, deren Namen auf einmal nicht mehr politisch korrekt sein soll. Es klingelt an der Tür, und ein junger Nachbar will Unterschriften für ihre Umbenennung sammeln. Lucia wartet doch eigentlich auf ihr „Essen auf Rädern“! Nichts funktioniert so, wie sie es gewohnt ist – weder in der Stadt, noch in der Welt, noch in ihrem Körper.
Lucia ist einsam, denn ihre Tochter hat ihre eigenen Probleme, und ihr Sohn sucht sein Glück in Adelaide. Die einzigen Menschen, die zu ihr sprechen, sind russische Dichter, deren Bonmots ihr in jeder Lebenslage weiterhelfen.
Doch bald treten gravierende Veränderungen in ihr Leben.

Willi, den Lucia bereits als kleinen, schüchternen Jungen kannte, ist der Besitzer des Mietshauses in der Mohrengasse – und er bekommt den Hals nicht voll. Er will das Haus sanieren, und die alten Mieter sind ihm dabei im Weg. Einige konnte er in eine Seniorenanlage am Stadtrand „umsiedeln“, doch andere – wie auch Lucia – weigern sich hartnäckig. Da entdeckt der hinterhältige Willi seine „soziale Ader“ und vermietet die freien Wohnungen an ein Obdachlosenprojekt, stellt die Toilettenspülung ab, und versorgt die neuen Mieter großzügig mit einer lauten Musikanlage…
Lucia ist auf 180! Sie packt ihren Gehstock und macht sich auf die Socken – und stattet Willi einen denkwürdigen Besuch in seinem absolut kafkaesken Büro ab.
Parallel dazu lernen sich Alexander und Elisabeth kennen, die sich beide in Russland wie in Österreich versuchen, finanziell über Wasser zu halten, er als idealistischer Lehrer, sie in einem Callcenter. Erst durch die Begegnung mit dem geheimnisvollen Magier Viktor Viktorowitsch und seiner „russischen Seele“ ändert sich ihr Leben – und das angestaubte Wien steuert einer Verjüngungskur zu….

Vladimir Vertlib, geb. 1966 in Leningrad, emigrierte mit seiner Familie in den 1970ern nach Österreich - und erlebte dabei selbst eine mehrjährige Odyssee. In seinen Erzählungen und Romanen verarbeitet er immer wieder das Leben als Emigrant - und erhielt mehrere Literaturpreise dafür.

Vertlib hat mit Lucia Binar eine äußerst lebendige und freche Heldin erschaffen. Sie lässt sich nichts sagen, schon gar nicht von Autoritätspersonen und Rassisten, ganz nach der Devise: der Hahn, der am lautesten kräht, wird geköpft! Sie beobachtet scharf, ist politisch auf dem Laufenden und lässt sich kein X für ein U vormachen. Kein Wunder, denn in ihren Adern fliesst tartarisches Blut.
Lucia, aber auch die anderen Figuren, sind mir beim Lesen sehr ans Herz gewachsen. Die Geschichte rund um einen gierigen Miethai deckt noch andere aktuelle Reizthemen in unserer Gesellschaft auf: die lieblose Behandlung älterer Menschen, Vereinsamung in der Großstadt, Verwahrlosung von Obdachlosen, Fremdenfeindlichkeit etc. – Trotz allem würzt Vertlieb seine Gesellschaftsanalyse mit einer ordentlichen Portion makaberen Humors, außerdem mit Lyrik und Surrealismus, eben mit der „russischen Seele“.
Ich finde es sehr beeindruckend, wie Vertlieb die Schicksale verschiedener Personen zusammenfügt, bis sie sich alle gemeinsam bei einem surrealistischen Showact wiederfinden.


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