Vladislav M. Zubok

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Cover des Buches Collapse: The Fall of the Soviet Union (ISBN: 9780300257304)

Collapse: The Fall of the Soviet Union

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Erschienen am 30.11.2021

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Cover des Buches Collapse: The Fall of the Soviet Union (ISBN: 9780300257304)
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Rezension zu "Collapse: The Fall of the Soviet Union" von Vladislav M. Zubok

Andreas_Oberender
Krise und Untergang der Sowjetunion

Vor wenigen Wochen jährte sich das Ende der Sowjetunion zum dreißigsten Mal. Normalerweise lassen deutsche Verlage keine Gelegenheit ungenutzt, bedeutende Jahrestage mit Neuerscheinungen zu würdigen. Doch aktuelle Werke zum Untergang des Sowjetstaates sucht man auf dem Buchmarkt vergebens, seien es Bücher aus der Feder deutscher Autoren, seien es Übersetzungen. Im Moment deutet nichts darauf hin, dass Vladislav Zuboks umfangreiche und ambitionierte Studie über Krise und Zerfall der Sowjetunion in deutscher Übersetzung erscheinen wird. Zubok, geboren 1958, erhielt seine wissenschaftliche Ausbildung in der Sowjetunion. Seit den frühen 1990er Jahren lebt und forscht er im Westen. Derzeit ist er Professor an der London School of Economics. Eingangs legt Zubok dar, dass er, so wie viele gebildete Sowjetbürger, große Hoffnungen mit den von Michail Gorbatschow eingeleiteten Reformen verband. Die Verstörung darüber, dass die Reformen binnen weniger Jahre zum Ruin und zum Untergang der Sowjetunion führten, ist die Triebkraft, die Zubok motiviert. In einer Kombination von Erzählung und Analyse schildert Zubok, wie Gorbatschows Versuch, das erstarrte Sowjetsystem zu reformieren und zu modernisieren, scheiterte. Zubok zieht eine beeindruckende Fülle von Quellen heran: Material aus russischen und westlichen Archiven, Memoiren und Tagebücher von wichtigen Akteuren der Perestroika-Zeit, Interviews mit ehemaligen sowjetischen Amtsträgern und amerikanischen Politikern. Wie nicht anders zu erwarten, spielt Gorbatschow eine prominente Rolle in der Darstellung. Doch Zubok nimmt auch viele andere Akteure in den Blick: Ranghohe sowjetische Partei- und Staatsfunktionäre in der Moskauer Zentrale und in den Unionsrepubliken, Gorbatschows Gegenspieler Boris Jelzin, die liberale Opposition, vereint in der Organisation "Demokratisches Russland", und nicht zuletzt westliche Staatsmänner wie George Bush und Helmut Kohl. Der Figurenreichtum und die parallele Erörterung innen- und außenpolitischer Vorgänge machen das Werk anspruchsvoll, gerade für Leser mit begrenzten Vorkenntnissen. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Die Kapitel 1 bis 6 behandeln die Jahre 1983 bis 1990. In den Kapiteln 7 bis 15 schildert Zubok mit minutiöser Ausführlichkeit die letzten 12 Monate der Sowjetunion. Breiten Raum nimmt der (gescheiterte) Putsch einiger KGB- und Armeeführer vom August 1991 ein, der Gorbatschows Bestreben zunichte machte, die ins Wanken geratene Sowjetunion mit Hilfe eines neuen Unionsvertrages noch zu retten.

Es ist zu bedauern, dass Zubok am Anfang des Buches die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die um 1980 in der Sowjetunion herrschten, nicht systematisch analysiert. Es wird nicht hinreichend deutlich, warum Generalsekretär Juri Andropow (1982-84) und sein politischer Ziehsohn Gorbatschow dringenden Reformbedarf diagnostizierten. Wo stand die Sowjetunion nach den bleiernen Jahren der Stagnation unter Parteichef Leonid Breschnew? Schnell zeigt sich, dass Zubok Gorbatschow deutlich kritischer gegenübersteht als William Taubman, dessen Gorbatschow-Biographie vor einigen Jahren international viel Beachtung fand. Zubok wirft Gorbatschow intellektuelle Überspanntheit, Selbstüberschätzung, Führungsschwäche und Unfähigkeit zu hartem, entschlossenem Durchgreifen in Krisensituationen vor. Immer wieder scheute Gorbatschow davor zurück, konsequent die Machtbefugnisse zu nutzen, die er als Generalsekretär und Präsident der Sowjetunion (ab März 1990) besaß. Mit harschen Worten tadelt Zubok Gorbatschows naive Lenin-Verehrung. Die Orientierung an Lenin, dem "großen Zerstörer der russischen Staatlichkeit", war aus Zuboks Sicht im Kontext der 1980er Jahre vollkommen deplatziert und absurd. Gorbatschow und seine Mitstreiter griffen auf Reformkonzepte aus den 1960er Jahren zurück, die ebenfalls nicht in die 1980er Jahre passten. Die schlecht durchdachten Wirtschaftsreformen, die Gorbatschow und Ministerpräsident Nikolai Ryschkow 1987/88 vornahmen, verschlimmerten die ökonomische Lage und führten überdies zu einer Zerrüttung der Staatsfinanzen. Gorbatschows zweiter folgenschwerer Fehler war die Verschiebung der Macht von der Kommunistischen Partei in das neugeschaffene Parlament, den Kongress der Volksdeputierten. Als sich die Lage Ende der 1980er Jahre zuspitzte, war die mit umfassenden Kompetenzen ausgestattete, aber von politisch unerfahrenen Abgeordneten  bevölkerte Legislative völlig überfordert, während der – durch Personalabbau zusätzlich geschwächte – Parteiapparat seine angestammte Aufgabe, das Riesenreich zusammenzuhalten, nicht mehr erfüllen konnte. In Moskau herrschte ein Führungsvakuum. Exekutive und Legislative waren nicht handlungsfähig; die Kritik an Gorbatschows kleinmütigem und glücklosem Agieren wuchs. Die Schwäche des Zentrums ließ zunächst in den baltischen Republiken und wenig später auch in Russland und in der Ukraine die Überzeugung heranreifen, der Weg in eine bessere Zukunft führe über die Umgestaltung der Sowjetunion (zu einer lockeren Konföderation) oder gar über eine Auflösung des Unionstaates. Eine Amerika-Reise im Sommer 1989 wurde für Gorbatschows Rivalen Jelzin zum Erweckungserlebnis (S. 83/84). Fortan sah Jelzin seine Mission darin, wenigstens Russland – wenn schon nicht die ganze Sowjetunion – in ein "normales Land" zu verwandeln. Darunter verstand er ein Konsumparadies. Jelzins destruktives Vorgehen nimmt in Zuboks Analyse den gleichen Stellenwert ein wie Gorbatschows Fehler und Illusionen. Der Weg in die wirtschaftliche Katastrophe, die Russland in den 1990er Jahren heimsuchen sollte, war vorprogrammiert, als sich Jelzin von dem jungen Ökonomen Jegor Gaidar beschwatzen ließ, den Übergang zur Marktwirtschaft in Form einer "Schocktherapie" zu vollziehen (S. 371-377). Zubok erinnert daran, dass Jelzin der Ukraine zweimal den Besitz der Krim und des Donbass garantierte und Grenzrevisionen ablehnte (S. 325, 386). Unter Führung von Leonid Krawtschuk arbeitete die Ukraine 1991 zielstrebig auf ihre Unabhängigkeit hin, in der Hoffnung, auf diese Weise dem Chaos zu entgehen, das in Russland um sich griff. 

Das Ende der Geschichte ist bekannt: Im Dezember 1991 verfügten Jelzin, Krawtschuk und die politischen Führer Weißrusslands eigenmächtig, hinter Gorbatschows Rücken die Auflösung der Sowjetunion. Der Sprung in die Unabhängigkeit und der nationale Alleingang einer jeden Republik schienen nur Chancen und Verheißungen zu bieten. Die Risiken wurden ausgeblendet, die möglichen Langzeitfolgen nicht abgeschätzt. Zubok resümiert: "Die Sowjetunion wurde Opfer eines perfekten Sturms". Zwei Faktoren ließen diesen Sturm entstehen: Gorbatschows verfehlte Reformen zum einen, zum anderen die separatistischen Bewegungen im Baltikum, in Russland und der Ukraine. Zubok bezweifelt, dass das Ende der Sowjetunion unausweichlich und unvermeidlich war, wie es nach 1991 im Westen oft hieß. Er gibt zu bedenken, dass die begrenzten Reformen, die Gorbatschows Vorgänger und Mentor Andropow durchführen wollte, den Fortbestand der Sowjetunion hätten sichern können: Wirtschaftliche Modernisierung in Verbindung mit vorsichtiger politischer Lockerung, unter Beibehaltung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei. Gorbatschow wollte zu viel, und er wollte es zu schnell. Zubok drückt sich vor der Frage, ob die Sowjetunion um 1985 möglicherweise am Ende ihrer natürlichen Lebensspanne angelangt und ob sie überhaupt erhaltenswert war. Zugegeben: Das ist keine wissenschaftliche, sondern eher eine "philosophische" Frage. Welchen "Nutzen" hätte der Fortbestand der Sowjetunion gehabt, sowohl für die Völker, die auf ihrem Territorium lebten, als auch für die Welt? Die sowjetische "Völkerfamilie" war eine Zwangsgemeinschaft, und es liegt im Wesen solcher Gemeinschaften, dass sie nicht von Dauer sind. Zwischen Letten und Georgiern, zwischen Ukrainern und Usbeken bestand kein natürlicher, historisch gewachsener Zusammenhang. Diese Tatsache trat 1991 grell zu Tage. Siebzig Jahre hatten nicht ausgereicht, um die Völker der Sowjetunion zu einer echten Gemeinschaft zusammenzuschweißen. Die Krise der 1980er Jahre war bei weitem keine so große und schwere Belastungsprobe wie der Zweite Weltkrieg. Und dennoch brach die Sowjetunion wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Gorbatschow stand alleine da; die Bevölkerung nahm die Implosion des Riesenreiches tatenlos hin. Willy Brandt sagte über den deutschen Einigungsprozess: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört." Mit Bezug auf den Untergang der Sowjetunion könnte man diese Worte umformulieren: "Jetzt zerfällt, was nicht zusammengehört, was niemals hätte zusammengefügt werden sollen." Ein zweiter Kritikpunkt: Es wird nicht klar, für welchen Leserkreis Zubok sein Buch geschrieben hat. Er setzt einiges an Vorwissen voraus, erläutert die Strukturen und Funktionsabläufe des Sowjetsystems zu wenig. In welchem Verhältnis standen Politbüro und Ministerrat zueinander? Was war ein Plenum des Zentralkomitees? Welcher Unterschied bestand zwischen einem Parteitag und einer Parteikonferenz? Solches Spezialwissen besitzen heutige Leser nicht mehr, am allerwenigsten die Generation der unter Vierzigjährigen. Vladislav Zubok schildert die dramatischen letzten Jahre des Sowjetstaates dicht, detailreich und aus der Perspektive einer Vielzahl von Akteuren inner- und außerhalb der Sowjetunion. Wie der aktuelle Ukraine-Konflikt zeigt, wirkt die Auflösung der Sowjetunion bis in die Gegenwart nach. Das Buch vermittelt dem Leser viele wichtige und wertvolle Einsichten. Ein Spaziergang ist die Lektüre allerdings nicht.

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