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Flucht in den Krieg? Die Krise des Kaiserreiches und Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg

Volker Berghahns Studie "Germany and the Approach of War in 1914" erschien zuerst 1973. Die vorliegende zweite, leicht überarbeitete Ausgabe stammt aus dem Jahr 1993. Auch in der überarbeiteten Fassung ist dem Buch deutlich anzumerken, dass es in den 1970er Jahren entstanden ist, als in der westdeutschen Geschichtswissenschaft die kritische Auseinandersetzung mit dem Deutschen Kaiserreich ihrem Höhepunkt zustrebte. Im Mittelpunkt von Berghahns Buch steht ein Thema, das als "Klassiker" oder auch als "Dauerbrenner" der historischen Forschung bezeichnet werden: Der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik im Kaiserreich. Berghahn ist ein entschiedener Anhänger der Auffassung, dass die wilhelminische Außenpolitik ohne Rückbindung an die inneren Zustände und die Innenpolitik des Kaiserreiches nicht angemessen erklärt und verstanden werden kann ("Primat der Innenpolitik"). An dieser Prämisse hat er auch in der überarbeiteten Neuauflage seines Buches festgehalten. In der Einleitung rekapituliert er den Gang der Forschung zwischen 1973 und 1993. Er setzt sich kritisch mit Historikern wie Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand und Michael Stürmer auseinander, die im Gegensatz zu Berghahn die Ansicht vertraten, zum Verständnis der deutschen Außenpolitik unter Wilhelm II. sei das Studium des europäischen Mächtesystems und der Diplomatie ausreichend ("Primat der Außenpolitik").

Berghahns Buch ist keine Diplomatiegeschichte. Darüber sollte sich jeder Leser klar sein, der es zur Hand nimmt. Berghahn setzt ein erhebliches Vor- bzw. Hintergrundwissen voraus. Die Lektüre des Buches ist nur sinnvoll, wenn man sich bereits eingehend mit der Geschichte des Kaiserreiches und des europäischen Staatensystems zwischen 1890 und 1914 beschäftigt hat. Das Buch ist konsequent analytisch angelegt und eignet sich daher nicht für Leser, die sich erstmals mit der Außenpolitik des Kaiserreiches beschäftigen wollen und lediglich an Daten und Fakten interessiert sind. Berghahn analysiert die wilhelminische Außenpolitik vor dem Hintergrund der "Strukturkrise der preußisch-deutschen Monarchie". Von den innenpolitischen Verhältnissen im Kaiserreich zeichnet Berghahn ein ähnlich negatives und düsteres Bild wie Hans-Ulrich Wehler in seinem bekannten und umstrittenen Buch "Das Deutsche Kaiserreich" von 1973. Berghahn sieht im Kaiserreich ein allenfalls halbparlamentarisches System mit starker Exekutive (Kaiser und Kanzler) und schwacher Legislative (Reichstag). Im Bündnis mit dem Kaiser stemmten sich die alten konservativen Eliten, vor allem der grundbesitzende Adel, gegen eine Parlamentarisierung des politischen Systems. Je weiter Deutschland auf dem Weg der sozioökonomischen Modernisierung voranschritt, desto anachronistischer wurde die einst von Bismarck geschaffene autoritär-monarchische Staatsordnung. Wirtschaftsbürgertum und Arbeiterschaft blieben von nennenswerter politischer Teilhabe ausgeschlossen.

Da die Regierung jedoch in Budgetfragen auf den Reichstag angewiesen war, musste sie notgedrungen nach parlamentarischen Mehrheiten suchen. Das wurde im Laufe der Zeit immer schwieriger, da die konservativen und liberalen Parteien, die als einzige Verbündete der Krone in Frage kamen, ständig an Boden verloren, während das katholische Zentrum und die SPD erstarkten. Die Jahre zwischen Bismarcks Abgang 1890 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 waren im Grunde eine einzige innenpolitische Dauerkrise. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war die Lage so verfahren, daß innenpolitisch mehr oder weniger Stillstand herrschte. Die Reichsregierung konnte ihre Gesetzesvorhaben entweder gar nicht oder nur unter größten Mühen durchbringen, da alle im Reichstag vertretenen Parteien von Fall zu Fall entschieden, ob sie der Regierung ihre Stimme gaben oder nicht. Selbst die Konservativen stimmten gegen die kaiserliche Regierung, wenn ein Gesetzesvorschlag ihren Interessen widersprach. Eine reibungslose und störungsfreie Regierungsarbeit war unter solchen Umständen kaum möglich. Trotz der wechselseitigen Blockade von Exekutive und Legislative lehnten der Kaiser, sein höfisches Umfeld und die konservativen Kräfte hinter dem Thron den Übergang zu einem "richtigen" parlamentarischen System ab. Stattdessen versuchten sie, die "kaisertreuen" und "staatserhaltenden" Parteien und Bevölkerungsschichten durch eine kraftvoll zupackende "Weltpolitik" in Übersee für die Krone zu gewinnen. Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht sollte das immer selbstbewusster werdende Bürgertum für die fehlende politische Teilhabe entschädigen.

Hier kam der Flottenbau ins Spiel. Dem Aufbau einer Schlachtflotte ab Ende der 1890er Jahre widmet Berghahn in seinem Buch mehrere Kapitel. Admiral Tirpitz, der marinebegeisterte Kaiser und der Staatssekretär des Äußeren und spätere Reichskanzler Bülow verfolgten zwei Ziele, ein innen- und ein außenpolitisches: Zum einen sollte der Flottenbau breite Bevölkerungskreise für die Weltpolitik begeistern, die allerdings eher ein Slogan als ein konkretes Programm war. Deutschlands Anspruch auf Weltgeltung ließ sich mit einer mächtigen Flotte hervorragend zum Ausdruck bringen. Zum anderen - dies war das Kalkül des Admirals Tirpitz - sollte die Flotte als Druckmittel gegenüber Großbritannien dienen. Um von Großbritannien als gleichrangige Großmacht anerkannt zu werden, musste Deutschland zur See ebenbürtig sein. Der Flottenbau war Teil der sogenannten "Sammlungspolitik", mit der die Regierung einen Großteil der Bevölkerung um den Thron zu scharen versuchte, ohne Zugeständnisse im Sinne einer Parlamentarisierung und Demokratisierung machen zu müssen. Den Konservativen und Liberalen wurde die Zustimmung zum kostspieligen Flottenbau durch allerlei Tauschhändel abgerungen, u.a. durch Erhöhung der Einfuhrzölle für ausländische Agrarerzeugnisse, was prompt zu einer Belastung des Verhältnisses zu Russland führte. Für einige Jahre hatte die "Sammlungspolitik", eine Ablenkungs- und Integrationsstrategie, Erfolg. Das politische System wurde notdürftig stabilisiert; Reformen konnten umgangen oder wenigstens aufgeschoben werden. Dank der regen Propaganda des Flottenvereins erfreute sich der Flottenbau bald großer Popularität im Volk.

Folgt man Berghahn, so wurde der Flottenbau Deutschland rasch zum Verhängnis. Die deutsche Aufrüstung zur See alarmierte Großbritannien, das seine maritime Vormachtstellung gefährdet sah und mit einem eigenen Flottenbauprogramm reagierte. Das Deutsche Reich konnte in dem nun einsetzenden Wettrüsten aus finanziellen Gründen nicht mithalten. Der ständige Kampf um den Marine-Etat und die Suche nach neuen Geldquellen für den Flottenbau zerrütteten die Beziehungen zwischen Krone, Regierung und Reichstag. Reichskanzler Bülow wollte zur Finanzierung des Flottenbaus eine Erbschaftssteuer einführen, scheiterte aber am Widerstand der Konservativen und Liberalen. Ausbleibende Erfolge der Weltpolitik und außenpolitisch-diplomatische Niederlagen (z.B. Erste und Zweite Marokko-Krise) führten in der von chauvinistischen Leidenschaften aufgewühlten Gesellschaft zu Frustration und Verbitterung. Wollte die Regierung den bürgerlich-konservativen Teil der Bevölkerung nicht vollends verprellen, so musste sie auf anderen Wegen für Deutschland einen "Platz an der Sonne" erringen. Da das Flottenwettrüsten 1911/12 bereits verloren und der Erwerb neuer Kolonien missglückt war, erfolgte ein Kurswechsel: Weltpolitik sollte fortan nicht mehr in Übersee betrieben werden, sondern in Europa. Wollte Deutschland doch noch zur Weltmacht aufsteigen, so musste es auf dem Kontinent mehr Bewegungsfreiheit erlangen und seine Ressourcenbasis verbreitern. Im Umfeld des Reichskanzlers Bethmann Hollweg kursierten Pläne für den Aufbau eines kontinentalen Wirtschaftsblockes, der Deutschland, Österreich-Ungarn, den Balkan und eventuell sogar das Osmanische Reich einschließen sollte. Dieses "Mitteleuropa" sollte als Ausgangsbasis für Deutschlands zweiten Anlauf zur Weltmachtstellung dienen.

Der Kurswechsel hin zur Kontinentalstrategie führte dazu, dass der Heeresrüstung verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das Wettrüsten zu Lande trat in eine neue Phase. Russland und die Zweibundmächte umwarben die Balkanstaaten. Die Einbeziehung des Krisenherdes Balkan in die Rivalitäten der Großmächte hatte fatale Folgen. Deutsche Versuche, Rumänien und Bulgarien diplomatisch an den Zweibund heranzuziehen, blieben ohne Erfolg. Auch im Innern steckte die kaiserliche Regierung in der Sackgasse. Bei den Reichstagswahlen von 1912 wurde die SPD stärkste Fraktion. Am Hof, im Militär und unter den konservativen Eliten verstärkte sich der Eindruck, sowohl außen- als auch innenpolitisch "eingekreist" zu sein. Panik und Pessimismus griffen um sich; die Angst vor einem revolutionären Umsturz und einem Angriff der Entente-Mächte in naher Zukunft nahm zu. Mehr und mehr bot sich ein (Präventiv-)Krieg als Lösung aller innen- und außenpolitischen Probleme an. Und wenn schon losgeschlagen werden musste, dann besser früher als später! Ein siegreicher Krieg, so glaubten die Politiker und Militärs, bot Aussicht auf eine Stabilisierung der monarchischen Ordnung und eine Umgestaltung des europäischen Mächtesystems zugunsten Deutschlands. Dieses Kalkül, so Berghahn, lag Bethmann Hollwegs Risikostrategie im Juli 1914 zugrunde. Der Reichskanzler spielte va banque, weil er keinen anderen Weg sah, das Reich aus der innen- und außenpolitischen Sackgasse herauszuführen.

Berghahns Buch beeindruckt durch Eloquenz, umfassende Sach- und Quellenkenntnis und eine klare, stringente Argumentation, die auf den Leser geradezu bezwingend wirkt. Das Buch ist eine mustergültige Fallstudie über die Interdependenz von Innen- und Außenpolitik. Selbst einem Laien ist klar, dass Staaten ihre Außenpolitik nicht in einem Vakuum betreiben. Auch wenn Berghahns Buch nicht den heutigen Forschungsstand wiederspiegelt, verdient es noch immer eine aufmerksame und unvoreingenommene Lektüre. Mit seinen Thesen über den engen Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik im Kaiserreich stand Berghahn seinerzeit nicht allein da, wie ein Blick auf die Arbeiten und Forschungen anderer westdeutscher Historiker seiner Generation zeigt. Auffällige Parallelen bestehen z.B. zwischen Berghahn und Wolfgang Mommsen (siehe Mommsens Aufsatzsammlung "Der autoritäre Nationalstaat" von 1990 und sein Buch "Großmachtstellung und Weltpolitik. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches" von 1993). Was die ältere Forschung zu Deutschlands Rolle im Vorfeld des Ersten Weltkrieges und während der Juli-Krise zu sagen hatte, das ist mit Christopher Clarks "Schlafwandlern" keineswegs obsolet geworden. Die "Schlafwandler" sind im Kern eine konventionelle Diplomatiegeschichte. Allein schon aus Platzgründen sagt Clark sehr wenig über die inneren Verhältnisse der europäischen Großmächte und die Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenpolitik. Daher sind Bücher wie das von Berghahn auch heute noch wichtig, und zwar als Ergänzung zu Clark. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Juni 2015 bei Amazon gepostet)

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