Königin Elisabeth I. (1533-1603) gehört zu den bekanntesten und zugleich beliebtesten britischen Monarchen. Im historischen Bewusstsein der Briten gilt die Königin seit jeher als Verkörperung eines Goldenen Zeitalters. Elisabeth steht stellvertretend für die erfolgreiche Selbstbehauptung Englands gegenüber der Großmacht Spanien, die Gründung der Anglikanischen Kirche und die Blüte von Kunst und Literatur. Über Elisabeth dürften ähnlich viele Bücher geschrieben worden sein wie über ihren Vater, Heinrich VIII., und Königin Viktoria, die ebenfalls einem ganzen Zeitalter den Namen gab. Während sich mit populärwissenschaftlichen Elisabeth-Biographien mühelos ganze Regalmeter füllen lassen, haben Biographien, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, Seltenheitswert. Zu den wenigen Werken, die für den wissenschaftlichen Gebrauch in Frage kommen, gehört die Biographie des amerikanischen Historikers Wallace MacCaffrey (1920-2013). Sie ist ein Standardwerk für alle Leser, die sich ernsthaft und im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit mit Elisabeth I. beschäftigen wollen. Zwischen 1969 und 1992 veröffentlichte MacCaffrey eine detailgesättigte dreibändige Studie über die englische Innen- und Außenpolitik während der Regierungszeit Elisabeths I. In jahrzehntelanger Arbeit hat MacCaffrey alle edierten und eine Fülle archivalischer Quellen ausgewertet, die für eine Biographie Elisabeths I. relevant sind. Die 1993 erschienene Biographie kann als Quintessenz seiner lebenslangen Forschungen gelten. Wenn sich ein Historiker über Jahrzehnte hinweg mit ein und demselben Thema befasst, dann ist das Risiko groß, dass er der Versuchung erliegt, sein gesamtes Wissen vor dem Leser auszubreiten. MacCaffrey hat dieser Versuchung widerstanden. Er hat sein anspruchsvolles und komplexes Thema meisterlich "gebändigt". Bedenkt man, wie lange Elisabeth regierte und wie reich ihre Herrschaft an dramatischen Ereignissen und Vorgängen war, dann erscheinen die 450 Textseiten in MacCaffreys Buch als angemessen. Von Überlänge, von einem Missverhältnis zwischen Umfang und Inhalt kann keine Rede sein. Zur souveränen Beherrschung des Stoffes kommen die sprachlichen Qualitäten. Das Buch ist vorzüglich lesbar.
Die politische Geschichte in all ihren Facetten – Innen- und Religionspolitik, Außenpolitik und Kriegführung – steht im Mittelpunkt der Biographie. MacCaffrey zeigt Elisabeth ausschließlich in der Rolle der Monarchin und Politikerin. Das Privatleben der Königin wird nur am Rande behandelt. Mehrfach gibt MacCaffrey zu bedenken, dass die Königin nur für die Politik lebte. Obgleich hochgebildet, tat Elisabeth auffallend wenig für die Förderung von Künsten und Wissenschaften. Die kulturelle Blüte des elisabethanischen Zeitalters war dem Mäzenatentum vermögender Adliger zu verdanken, weniger dem Engagement der Königin, die zeitlebens darauf achtete, die Ausgaben der Krone so niedrig wie möglich zu halten. Elisabeth legte eine Sparsamkeit an den Tag, die ganz untypisch war für frühneuzeitliche Monarchen. Sie leistete sich zwar eine glanzvolle Hofhaltung, betätigte sich aber, anders als ihr Großvater und Vater, Heinrich VII. und Heinrich VIII., nicht als Bauherrin. Mit dem Hinweis auf Elisabeths geringes Interesse an Kunst und Wissenschaft lässt es MacCaffrey nicht bewenden. Seine durchweg kritische Haltung gegenüber der Königin ist ein erfrischender Kontrast zum hagiographischen Tonfall, der einen Großteil der Elisabeth-Literatur prägt. MacCaffrey erkennt zwar an, dass Elisabeth ein politisches Naturtalent war, willens- und durchsetzungsstark, eine Meisterin in der Kommunikation mit Ministern, Parlamentsabgeordneten und Diplomaten. Er hat jedoch keine Scheu, die Misserfolge und Fehlleistungen der Königin beim Namen zu nennen. MacCaffrey behandelt alle Aspekte und Themen, die in einer politikgeschichtlich angelegten Elisabeth-Biographie vorkommen müssen: Die Heirats- und Nachfolgefrage; die Gründung der Anglikanischen Staatskirche (sogenanntes "Elizabethan Settlement", 1559); das Zusammenspiel von Krone und Parlament; die Beziehungen zu Schottland, Frankreich, Spanien und den Niederlanden; die Auseinandersetzungen mit der katholischen Opposition im Lande, die Elisabeth zugunsten Maria Stuarts stürzen wollte; den Krieg mit Spanien ab 1585; schließlich die endgültige Unterwerfung Irlands unter englische Herrschaft.
Bei der Erörterung all dieser Themen berücksichtigt MacCaffrey die Rolle der historischen Akteure ebenso wie strukturelle Faktoren. Die Zusammenarbeit zwischen Elisabeth und ihren im Privy Council versammelten Ministern und Ratgebern nimmt breiten Raum in der Darstellung ein. Unter welchen Bedingungen betrieben die Königin und die Regierung Innen- und Außenpolitik? Wie wirkten sich Elisabeths persönliche Stärken und Schwächen auf die Politik aus? England war in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bestenfalls eine Mittelmacht. Das Königreich besaß kein stehendes Heer, und der finanzielle Spielraum der Krone war eng. Innen- und Außenpolitik standen im Zeichen des Konfessionskonfliktes zwischen Katholiken und Protestanten. Elisabeth war eine lauwarme Christin; leidenschaftliche Religiosität war ihr vollkommen fremd. Ihre nüchterne und abgeklärte Haltung in Glaubensdingen erwies sich immer wieder als Handicap, wie MacCaffrey zeigt. Die Kirchenordnung, die Elisabeth ihrem Land 1559 gab, führte nicht zur abschließenden Klärung der Religionsfrage, im Gegenteil, sie entfremdete sowohl die Katholiken als auch eine wachsende Zahl radikaler Protestanten, die sogenannten Puritaner, vom Staat. Ungewollt schuf Elisabeth die Grundlagen für die Konflikte, die England im 17. Jahrhundert erschütterten. Zunächst betrieb Elisabeth eine defensive Außenpolitik. Sie hielt sich aus den Konflikten heraus, die in den 1560er Jahren in Frankreich und in den Niederlanden ausbrachen. Lange lehnte sie es ab, den französischen und niederländischen Protestanten Hilfe zu gewähren. Aber auch eine kluge Herrscherin wie Elisabeth war nicht vor fatalen Fehlentscheidungen gefeit. Als sich die Königin Ende der 1570er Jahre doch dazu entschloss, die niederländischen Rebellen zu unterstützen, zog sie sich die unversöhnliche Feindschaft Philipps II. von Spanien zu. Ein direkter Zusammenstoß mit Spanien wurde unausweichlich. Es war keineswegs ausgemacht, dass England aus diesem Zweikampf siegreich hervorgehen würde. Aus dem Untergang der Armada konnte Elisabeth nicht den erhofften Gewinn ziehen. Die begrenzten militärischen Ressourcen ihres Landes reichten nicht aus, um Spanien einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Die Flottenoperationen gegen Spanien und seine Kolonien in Amerika waren kaum mehr als Nadelstiche. Als schwere Hypothek für die Zukunft erwies sich Elisabeths Irland-Politik. Die Königin vollendete das Werk ihres Vaters. Heinrich VIII. hatte damit begonnen, Irland endgültig der englischen Herrschaft zu unterwerfen. Elisabeth gab ihren Statthaltern freie Hand für ein brutales Vorgehen gegen die einheimische Bevölkerung. Das Verhältnis zwischen Iren und Engländern wurde dadurch auf Jahrhunderte vergiftet.
Trotz alledem sieht MacCaffrey in Elisabeth keine gescheiterte Herrscherin. Paradoxerweise konnte die Königin am Ende ihres Lebens mit der politischen Großwetterlage in Westeuropa zufrieden sein. Die niederländischen Rebellen behaupteten sich gegen Spanien. Heinrich IV. von Frankreich setzte seinen Thronanspruch durch und beendete den Bruderkrieg zwischen Katholiken und Hugenotten. Die Hilfe aus England, Geld und Soldaten, fiel in den Niederlanden ebenso wenig ins Gewicht wie in Frankreich. England profitierte von Erfolgen, zu denen es kaum substantiell beigetragen hatte. Frankreich war wieder ein Gegengewicht zu Spanien, und ein lebensfähiger niederländischer Staat war entstanden. Von der Hegemonialmacht Spanien ging keine unmittelbare Bedrohung für England mehr aus. Damit waren die wesentlichen außenpolitischen Ziele erreicht, auf die Elisabeth und ihre Minister hingearbeitet hatten. Im Innern war die Lage stabil. Elisabeth war eine populäre, aber auch strenge Herrscherin. Im Umgang mit Katholiken und Puritanern war sie nicht zimperlich. Wer die Königin herausforderte, der wurde diszipliniert, nötigenfalls hart bestraft. Elisabeth verhinderte zu ihren Lebzeiten eine Eskalation der konfessionellen Spannungen zum Bürgerkrieg. Das war ihre Hauptleistung. Die Bruchlinien in der englischen Gesellschaft verschwanden aber nicht; sie bestanden fort und führten im 17. Jahrhundert zu schweren Erschütterungen. Auf das schwierige Erbe, das Elisabeth ihren Nachfolgern aus dem Hause Stuart hinterließ, hätte MacCaffrey näher eingehen können. Man vermisst als Leser auch die Behandlung von Aspekten, die das Bild von der Frau und Herrscherin Elisabeth abrunden könnten. Das höfische Leben, Elisabeths regelmäßige sommerliche Reisen durchs Land, der weibliche Mikrokosmos im persönlichen Haushalt der Königin (Privy Chamber), all das kommt zu kurz oder wird gar nicht angesprochen. Mit keinem Wort erwähnt MacCaffrey, dass Elisabeth eine passionierte Jägerin war. Obgleich kaum 25 Jahre alt, wirkt die Biographie mit ihrer einseitigen Konzentration auf Politik- und Diplomatiegeschichte etwas angestaubt und altbacken. Hat man sie gelesen, verspürt man das Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Elisabeth-Biographie, die sich auf der Höhe unserer heutigen Zeit bewegt und neue Forschungsansätze einbezieht. Gleichwohl ist MacCaffreys Buch wertvoll und lesenswert, gerade weil es einer unkritischen Verklärung Elisabeths I. eine deutliche Absage erteilt. MacCaffrey zeichnet ein realistisches Bild von den Leistungen und Fehlern, Stärken und Schwächen der Königin.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Februar 2017 bei Amazon gepostet)