Rezension zu "Der Wanderer zwischen beiden Welten" von Walter Flex
Als „Klassiker“ habe ich das Bändchen in die Hand genommen, erwartungsvoll, da ich gelesen hatte, „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ sei eines der sechs meistgelesenen deutschen Bücher des 20. Jahrhunderts gewesen. Das kann sogar sein, aber der Erfolg fällt in die erste Hälfte des fraglichen Jahrhunderts.
Meine Erwartungen wuchsen noch, als mich die Lektüre durch einen expressionistischen, überwältigen Natureingang führte, ein tiefes Erleben des jungen Soldaten im Kontrast zwischen seinem entsetzlichen Auftrag auf der einen und dem lebensfrohen Schauspiel der Schöpfung auf der anderen Seite. Gleich hier am Anfang steigert sich der Ausdruck in das bekannte Lied „Wildgänse rauschen durch die Nacht“, das diesen Gegensatz in Verse setzt. Der Ich-Erzähler Flex wird aus dem Schützengraben der Westfront zum Leutnantsseminar nach Ostpreußen gebracht und lernt so seinen persönlichen Helden, den blonden Theologiestudenten, Wandervogel und Schwärmer Ernst Wurche kennen. Die Beziehung zwischen Flex und Wurche ist nicht frei von homosexueller Aufladung, entsteht aber vor allem angesichts des lebensbedrohlichen Seins als Soldaten im Kugelhagel des Ersten Weltkriegs. Viele Texte aus Kriegen bezeugen die emotionale Angespanntheit, ja Überspanntheit der Kriegsteilnehmer, die in ihren jungen Jahren bereits dem Tod als unmittelbare Gefahr ins Gesicht schauen müssen. Das macht etwas mit diesen jungen Männern, das sie ihr Leben klang mit sich herumtragen, wenn sie den Krieg denn überleben.
Wurche wird glänzender Farbe überhöht, die Lust am Goethe-Verse-Schmettern und am Nacktbaden unter den Maschinengewehren der Russen hat meist etwas Groteskes. Steht anfangs Wurche als lebensbejahender Mensch vor einem, der aus Religion und Literatur die Liebe zum Leben und zum Menschen mitgebracht hat, mutiert der zum Leutnant beförderte Wurche in Flex‘ Darstellung mehr und mehr zum „Helden“, ja: zum „deutschen Helden“. Korrigiert er anfangs noch, die Aufgabe des Offiziers sei nicht das Vorsterben, sondern das Vorleben, stilisiert Flex das Vorsterben als den Gipfelpunkt des Vorlebens, nachdem Wurche erst einmal gefallen ist.
Überhaupt übermannt Flex an der ostpreußischen Front das Deutschtümelnde, wobei er immerhin jedem Volk das Recht zuspricht, sich für irrsinnig toll zu halten, und gleichzeitig jedes Volkes Ende bedenkt. Von Ewigkeit oder nur tausend Jahren immerhin keine Spur. Und dennoch: Es sind diese verklärenden Passagen überspannten Kriegsgeheuls und tümelnden Nationalismus, die diesem Buch seinen Erfolg in den ersten 29 Jahren nach seinem Erscheinen beschert haben dürften.
Von der Lektüre des „Wanderers“ ist dennoch keineswegs abzuraten: Er ist ein Dokument seiner Zeit, spielt mit den Mitteln des Expressionismus und gibt einen Blick auf den gellenden Widerspruch zwischen Leben und Krieg frei. Ihm fehlt nur die kritische Distanz, wie sie Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ oder Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ erreichen. Denn diese Distanz zum Geschehen benötigt der Gedanke, um verstanden werden zu können – auch heute noch.
Flex hatte seinen eigenen Kriegstod ein Jahr nach Erscheinen des Romans, und wie er auf der Insel Oesel erschossen wurde, hat nichts Heldenhaftes an sich.