Allein schon dieser Band ist ein Riesenwälzer und dabei handelt es sich „nur“ um den zweiten Band eines doppelbändigen Romans über den Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion und insbesondere über die Schlacht von Stalingrad. Der chronologisch erste Band trägt den Titel Stalingrad. Entstanden ist die Dilogie in der Zeit von 1942 – ca. 1960. Die Veröffentlichungsgeschichte ist wegen der sowjetischen Zensur ein eigener Roman. Unzensiert auf Deutsch ist seltsamerweise der zweite Teil im Jahr 2021 nach dem hier vorliegenden, der 2007 erschien, herausgekommen.
Gegenüber dem ersten Band unterscheidet sich Leben und Schicksal vor allem auch durch die harte und klare Kritik an den Zuständen in der Sowjetunion, weshalb dieser Roman dort zu keiner Zeit, auch nicht entschärft oder teilweise zensiert, erscheinen konnte. Erstmals erschien er daher 1980 in der Schweiz. Zu verdanken ist das mehreren Schmugglern, die das Manuskript aus der Sowjetunion heraus brachten. Wladimir Woinowitsch berichtet in seinem Nachwort davon.
Der Entstehungsgeschichte der Dilogie ist es wohl geschuldet, dass manche Namen sich im ersten und zweiten Band unterscheiden. So wird Jewgenia Nikolajewna, die in Stalingrad Schenja hieß, in diesem Band Genia gerufen und der im ersten Band lediglich als Übergeber eines Päckchens auftretende Iwannikow heißt als Gesprächspartner von Mostowskoi in einem deutschen Lager und Autor einer philosophischen Betrachtung nun Ikonnikow-Morsch.
Sehr offen formuliert Grossman Kritik an der kommunistischen Einheitspartei: „Das Parteibewusstsein bestimmte auch die Haltung des Parteifunktionärs gegenüber einem Buch oder einem Bild; deshalb musste er, ohne zu zögern, auf einen vertrauten Gegenstand, auf ein Buch etwa, das er liebte, verzichten, sofern seine eigenen Neigungen mit dem Interesse der Partei in Konflikt zu geraten drohten.“ (List Tb, 4. Aufl. 2016, S. 120) oder „Grausam und hart waren manchmal die Opfer, die Getmanow um seines Parteibewusstseins willen bringen musste.“ (ebd., S. 120)
Der Autor macht kein Geheimnis daraus, was er von dieser Art von Unehrlichkeit hält: „Es laufen so viele Nullen herum. Die Menschen haben Angst, ihr Recht auf Ehrlichkeit zu verteidigen, sie geben zu leicht nach. Kompromisslertum und erbärmliches Verhalten allenthalben.“ (ebd., S. 991)
Und in Bekräftigung seiner Theorie, dass die Menschen sich ihre Freiheit nicht dauerhaft nehmen lassen, erwähnt Grossman auch die Aufstände in den sozialistischen Ländern: „Da ist der poststalinistische Berliner Aufstand im Jahr 1953 und der ungarische Aufstand im Jahr 1956, da sind die Aufstände, die nach Stalins Tod in den Lagern Sibiriens und des Fernen Ostens aufflammen.“ (ebd., S. 257/258)
Bei aller Kritik am Kommunismus sowjetischer Prägung bezieht Grossman doch klar Stellung gegen den Faschismus: „Die Welt wird an jenem Tag in Blut ertrinken, an dem der Faschismus sich seines endgültigen Triumphes völlig sicher sein wird. Hat der Faschismus einmal keine bewaffneten Feinde mehr auf der Welt, dann werden seine Henker, die Kinder, Frauen und Greise töten, völlig das Maß verlieren. Der Hauptfeind des Faschismus bleibt der Mensch.“ (ebd., S. 233)
Eine gehörige Spitze gegen die nationalsozialistische Ideologie platziert Großmann auch nochmal gegen Ende: „Man konnte nur staunen! So viele von ihnen waren klein, hatten große Nasen und niedrige Stirnen, komische Hasenmäulchen und Spatzenköpfe, so viele Arier waren schwarzhaarig, pickelig und sommersprossig.“ (ebd., S. 966)
Ich las dieses Buch zum zweiten Mal, das erste Mal war vor ca. einem Jahrzehnt und im Gedächtnis geblieben ist mir vor allem dieser Brief, den Strums Mutter ihrem Sohn aus einem jüdischen Ghetto schreibt in der Erwartung, es sei ihr letzter Brief an ihn (ebd., S. 94-109). Und wieder passiert es. Ich weine! Es gibt einige Bücher, die mich berührt haben, aber keines hat mich so tief berührt, dass mir Tränen die Wange hinunterliefen. Doch diese Zeilen schaffen es zum zweiten Mal. Unglaublich.
Zwischendurch nimmt sich der Autor immer mal wieder Zeit, philosophische oder historische Betrachtungen anzustellen. So lässt er den als Christen, der den Glauben an einen Gott verloren hat, auftretenden Ikonnikow-Morsch sagen: „Ich habe das große Leiden der Bauern gesehen, die Kollektivierung aber wurde im Namen des Guten durchgeführt. Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an die Güte.“ (ebd., S. 27/28) und lässt ihn dann umfangreiche Überlegungen anstellen über das Gute und die Güte.
Selbst über die künstliche Intelligenz lässt sich der Autor aus, wohlgemerkt in den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts: „Man kann sich die Maschinen der zukünftigen Jahrhunderte und Jahrtausende vorstellen. Sie wird Musik hören, Malerei beurteilen, selbst Bilder malen, Melodien erschaffen, Verse schreiben. Gibt es eine Grenze für ihre Vollkommenheit? Wird sie dem Menschen gleich werden, ihn übertreffen?“ (ebd., S. 258)
Interessanterweise lässt Grossman den Physiker Pjotr Lawrentjewitsch Sokolow eine Klage anstimmen, die man auch später und bis heute in Deutschland vernimmt: „Wir Russen dürfen aus irgendeinem Grund nicht auf unser Volk stolz sein, im Nu stempelt man es als Chauvinismus und Dunkelmännertum ab.“ (ebd., S. 349)
Es gibt auch kleine Fehler und Seltsamkeiten in dem Buch, wobei natürlich für den Leser nicht zu klären ist, wie die zustande kamen. So ist der deutsche Offizier Liss mal Sturmbannführer und mal Obersturmbannführer, manche Namen oder Schreibweisen ändern sich zwischen ‚Stalingrad‘ und ‚Leben und Schicksal‘ und Vera ist im zweiten Teil mit Viktorow verheiratet, was sie im ersten noch nicht war. Allerdings fand erzählerisch nie eine Hochzeit statt.
Einem Satz des Nachworts von Jochen Hellbeck möchte ich an der Stelle ausdrücklich zustimmen: „Doch eröffnet sich eine gänzlich neue Lektüre, wenn man ‚Leben und Schicksal‘ als den zweiten Teil der von Grossman so intendierten Dilogie betrachtet.“ (ebd., S. 1074) Denn plötzlich erscheint Grossman nicht mehr, wie man den Eindruck gewinnen kann, wenn man den zweiten Band isoliert liest, als ausschließlich regimekritischer Autor, sondern als Autor, der voller Begeisterung für die Revolution den Glauben an das „Gute“ im Laufe seines Lebens und der Ereignisse verlor und dem die „menschliche Güte“ als Lösung gegenüberstellt.
In Summe ein Buch, was alles hat, was ein brillantes Werk braucht. Spannung, Liebe, Verrat, Politik, Philosophie und vieles mehr. Fünf Sterne. Dieses Buch gehört mit Sicherheit zu den Top Ten der besten Bücher, die ich je gelesen habe.