Cover des Buches Atlas der fiktiven Orte (ISBN: 9783411083879)
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Rezension zu Atlas der fiktiven Orte von Werner Nell

Rezension zu "Atlas der fiktiven Orte" von Werner Nell

von cicero vor 12 Jahren

Rezension

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cicerovor 12 Jahren
Vergnügliche Ortskunde für literarisch Gebildete . Der Atlas der fiktiven Orte ist ein gelungenes Vergnügen für literarisch vielseitig gebildete Menschen. Hier geht es nämlich nicht darum, die aus Esoterik und Pseudowissenschaft sattsam bekannten Kandidaten "verlorener" Städte möglichst spektakulär abzuhaken. Vielmehr orientiert sich die Auswahl an literarischen und kulturellen Gesichtspunkten, wie man an sonst eher selten genannten Orten wie Ardistan, Entenhausen oder Metropolis sehen kann: Orte, die es in der Tat schon lange verdient haben, näher beleuchtet zu werden. Die Präsentation will dem Leser auf leichte Weise einen Mehrwert an Bildung und Anregung zum Selberlesen bieten. Das wird nicht zuletzt auch dank der Illustrationen erreicht, die teils kreativ sind, teils aber auch eine genaue Nachzeichnung des beschriebenen Ortes versuchen. . Was Atlantis anbelangt ist die Präsentation wenigstens halbwegs erfreulich: Einerseits wird natürlich der literarischen Perspektive der Vorzug gegeben, so dass das Augenmerk eher auf literarische Vorbilder für eine Erfindung gelenkt wird. Hier werden dann natürlich auch spätere Hinzuerfindungen zum Atlantis des Platon aus Esoterik und Pseudowissenschaft erwähnt, die unter literarischen Gesichtspunkten inzwischen ohnehin längst die Oberhand über Platons Original gewonnen haben. Aber immerhin wird dem Leser nicht vorgespiegelt, dass das Thema Atlantis unumstritten und in wissenschaftlichen Kreisen längst geklärt sei. Der Gedanke an einen realen Ort Atlantis wird dennoch ausgeschlossen. Von Forschern wie z.B. Wilhelm Brandenstein, der in der Atlantiserzählung gerade unter literarischer Perspektive einen realen Kern erkennen zu können glaubt, kein Wort; nun ja, das Glas halb voll statt halb leer. Atlantis ist eben keine Literatur, kein Poem, sondern sachlich orientierte Philosophie, und passt damit auch nicht ganz in das Konzept dieses Buches. . Korrigieren wir noch rasch einige Fehler im Detail: Falsch ist u.a. die Angabe, dass die Insel Atlantis ca. 533 x 355 km groß wäre: Dies ist vielmehr die angebliche Größe der Ebene in der Mitte der Insel. Dass Thule oder Vineta Stützpunkte von Atlantis gewesen seien ist pure Fantasy. Die Behauptung, dass Atlantis unterging, bevor der Krieg mit Athen zu Ende war, ist umstritten. Die Angabe, dass die Sonnenstadt des Campanella "in ihrem Aufbau ganz der Form von Atlantis entspricht", ist grottenfalsch. Die Frage, ob Atlantis für das Utopia des Thomas Morus Pate gestanden hat, ist umstritten; Utopia orientiert sich eher an einer anderen, sehr bekannten Insel im Atlantik: Britannien. Die wissenschaftliche Bedeutung von Rudbecks äußerst innovativer, wenn auch vergeblicher Atlantissuche wird völlig verkannt. Weitere grenzwertige und missverständliche Halbwahrheiten über Atlantis sind enthalten. Literaturangaben oder Internet-Links wie bei anderen besprochenen Orten fehlen leider. Das alles kann jedoch den unentwegten Literaturfreund nicht beirren. . Etwas zu kurz kommt der Vergleich der verschiedenen literarischen Orte bzw. deren entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang. So hätte man z.B. bei Michael Endes Lummerland auf die Untersuchung "Darwins Jim Knopf" von Julia Voss hinweisen können, in der klar nachgewiesen wird, dass hier die Atlantiserzählung unter einem ganz gewissen Gesichtspunkt Pate gestanden hatte. Überhaupt hätte man die verschiedenen Orte besser chronologisch als alphabetisch geordnet. Das schmälert aber das Vergnügen nicht, der gebildete Leser ist vollauf in der Lage die vorhandenen Lücken selbst zu schließen. Wenn es gar nichts mehr selbst zu denken gäbe, wäre das Buch womöglich langweilig!
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