Rezension zu "Ein Mann liest Zeitung" von Justin Steinfeld
Immer wieder einmal erscheinen Romane und andere Schriften in Neuauflage, die Zeugnis ablegen über die dunkelste Zeit der deutschen und europäischen Geschichte. Bücher, die kaum jemand kennt, die, wenn überhaupt, vor vielen Jahren in Deutschland erschienen sind und denen wenig Beachtung geschenkt wurde. Bücher, deren Autoren schon längst verstorben sind. Und bei denen man sich verblüfft fragt: Warum erst jetzt? Wie konnte dieser Text in Vergessenheit geraten? Oder gar nicht erst Beachtung finden? Um solch ein Buch handelt es sich bei „Ein Mann liest Zeitung“ von Justin Steinfeld.
Justin Steinfeld? Nie gehört. Und doch ist sein Exil-Text – es wie der Schöffling Verlag Roman zu nennen, widerstrebt mir ein wenig – genau so ein Buch. Fast 500 Seiten stark schließt es mit „Ende des ersten Teils“ und verrät, dass der Autor noch weit mehr im Sinn hatte. Und doch ist es eher ein Zufall, dass das Textkonvolut 1984 zum ersten Mal im neu gegründeten Neuen Malik Verlag erscheinen konnte. Justin Steinfeld selbst hat seine in der Zeit seines Exils in Prag, Australien und England verfassten Zeilen niemals zur Veröffentlichung gebracht. Nun bot sein Neffe den Text des 1970 Verstorbenen dem Kieler Verlag an. Der machte daraus „Ein Mann liest Zeitung“.
Justin Steinfeld war damals bereits nahezu vergessen, und ist es leider auch heute.
Der 1886 in Kiel als Sohn eines jüdischen Getreidegroßhändlers geborene und in Hamburg lebende Steinfeld war Theaterkritiker, Herausgeber einer Zeitschrift, der späteren Tribüne, und Mitbegründer des sozialistischen Hamburger Theaterkollektivs. Damit war er ein typisches Feindbild der 1933 an die Macht gekommenen Nationalsozialisten und wurde umgehend verhaftet und in Fuhlsbüttel interniert. Nach seiner Freilassung zögerte er nicht lange und entkam über das Riesengebirge wandernd nach Prag, wohin seine Frau und der Sohn nachfolgten.
Hier konnte er zwar hin und wieder für deutschsprachige Zeitungen arbeiten, war aber meistenteils arbeitslos und zum Sitzen im Kaffeehaus verdammt. Justin Steinfeld wurde Ein Mann liest Zeitung. Hier begann er auch mit der Niederschrift des nun wiederveröffentlichten Textes. Eine Handlung oder eine Geschichte, die man von einem Roman erwarten könnte, gibt es nicht. Es ist ein weitgehend nichtlektoriertes Zeitzeugnis. Und dadurch von großer Unmittelbarkeit und äußerst erhellend. Mit zunehmender Verzweiflung und einer ordentlichen Portion Sarkasmus verfolgt Justin Steinfeld die Vorgänge in Deutschland nach 1933. Jeder Zeitungsartikel, jede Nachricht, jeder Kommentar und jede Schlagzeile über die Dinge, die in seinem ehemaligen Heimatland, aus dem er 1935 ausgebürgert wurde, vor sich gingen, veranlasst ihn zu Assoziationen, Geschichten, Stellungnahmen.
Ob er über Weggenossen, wie den Schriftsteller Hans Henny Jahnn, oder über von ihm verachtete Polit- oder Wirtschaftsgrößen wie Hjalmar Schacht, den Reichsbankpräsident, schreibt, die Gedanken und Urteile, die er seinem fiktiven Alter Ego Leonard Glanz in den Kopf und sich in die Feder legt, sind ungemein scharfsichtig. Die Endphase der Weimarer Republik, die Blindheit, Naivität oder Eigensucht der Hochfinanz und Großindustrie, der spanische Bürgerkrieg – für Justin Steinfeld führte das Münchner Abkommen 1938, in das die Apeasement-Politik von Neville Chamberlain und Édouard Daladier mündete, auf direktem Weg zur Wannseekonferenz 1942, wo die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung organisiert wurde.
Nichts wirklich Neues für Leser:innen, die sich schon intensiv mit dieser Zeitepoche auseinandergesetzt haben. Aber auf wirklich brillante und scharfsichtige Weise umgesetzt. Die Ausführungen über Leonard Glanz erfahren zwei vom Autor gekennzeichnete Unterbrechungen. Einmal 1938, kurz vor Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei, denen die Familie Steinfeld durch Flucht nach Polen entkam, und einmal nach Kriegsbeginn, als er von England, in das er von Polen aus emigrierte, als feindlicher Ausländer in Australien interniert wurde. Nach dem Krieg lebte er in England, weitgehend vergessen und unter wenig erfreulichen wirtschaftlichen Bedingungen.
Die Niederschrift seines Ein Mann liest Zeitung hat Justin Steinfeld dort beendet, einige Lesungen gehalten, aber wenig Widerhall erfahren. Das war das Schicksal vieler Exilautoren, die nicht schon vor der Machtübernahme Hitlers eine gewisse Berühmtheit erlangt hatten. Die Exilländer hatten wenig Interesse an ihren Geschichten, und im Nachkriegsdeutschland wollte man zunächst nichts mehr von der Vergangenheit hören. 1970 ist Justin Steinfeld, der nicht nach Deutschland zurückkehren wollte, in England gestorben. Lediglich im Nachrichtenblatt der Association of Jewish Refugees erschien ein kurzer Nachruf. Es ist zu hoffe, dass die Neuveröffentlichung des Schöffling Verlags diesem wichtigen und spannend zu lesenden Zeitdokument wieder etwas Aufmerksamkeit verschafft.
Für Leser:innen ohne Kenntnisse der Geschehnisse während der Nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland mag der Text schwerer zugänglich sein. Auch ich habe über manche Seiten, über lang zitierte Vertragstexte oder Ähnliches hinweggelesen. Insgesamt ist Ein Mann liest Zeitung aber ungeheuer erhellend und mit dem immer wieder aufblitzenden verzweifelten Humor auch sehr anregend zu lesen.